Выбрать главу

Leiard atmete tief durch. Dann nahm er die Hand von der Stirn des Mannes und stand auf. Aus der Dunkelheit, wo sie geduldig gewartet hatte, erschien jetzt die Frau des Mannes. Sie war selbst krank gewesen und hatte sich noch kaum wieder erholt. Jetzt hielt sie ihm einen runden, flachen Brotlaib hin.

»Iss, Wilar«, sagte sie. »Reet hat mir erzählt, dass er dich nicht ein einziges Mal hat essen oder ruhen sehen.«

Leiard betrachtete die Frau, dann schaute er zu Auraya hinüber. Die Frau folgte seinem Blick.

»Du natürlich auch«, fügte sie hinzu.

Auraya lächelte. »Vielen Dank.« Sie musterte Leiard kritisch. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. »Er sieht tatsächlich so aus, als könnte er es gebrauchen.«

Leiard zögerte kurz, dann wandte er sich zu Reet um. »Schau nach Veece«, befahl er. Der Junge nickte und flog davon.

Als der Traumweber Platz nahm, brach die Frau das Brot und gab ihnen beiden ein Stück davon. Es war altbacken. Zweifellos hatte sie seit Tagen keine Gelegenheit mehr gehabt, irgendetwas zuzubereiten. Vielen Siyee mussten inzwischen die frischen Vorräte ausgegangen sein.

Was das betrifft, müssen wir unbedingt etwas unternehmen, ging es Auraya durch den Kopf.

»Was kann ich für ihn tun?«, fragte die Frau und blickte zu ihrem Mann hinüber.

»Wende weiter die Essenz an, die ich dir gegeben habe«, antwortete Leiard.

»Wird er überleben?«

»Ich habe ihm eine zweite Chance gegeben. Wenn sein Zustand sich nicht bessert, werde ich ihn vielleicht isolieren müssen, bis der Rest des Stamms sich erholt hat.«

»Warum?«, fragte Auraya.

Er drehte sich zu ihr um. »Weil die Gefahr besteht, dass er sich erneut anstecken wird.«

Sie hielt seinem Blick stand. »Dann tötest du also die Krankheit in seinem Körper?«

»Nur wenn es notwendig ist«, sagte er mit offenkundigem Widerstreben.

»Ich kenne keinen Heiler, der dazu imstande wäre. Deine Kräfte reichen weiter, als mir bewusst war.«

Er wandte den Blick ab. »Es gibt viele Dinge, die du nicht von mir weißt.«

Als die Frau seinen mürrischen Tonfall hörte, zog sie die Augenbrauen hoch. Sie stand abrupt auf und verließ den Raum. Auraya betrachtete Leiard, dessen hochmütige Miene sie verärgerte.

»Was zum Beispiel?«, fragte sie. »Oder sollte ich fragen: Was gibt es sonst noch?«

Er erwiderte ihren Blick mit kalten Augen, doch dann wurde seine Miene weicher. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wusste, dass du nach mir suchen würdest. Ich hätte… rücksichtsvoller sein sollen. Es war die einzige Möglichkeit für mich, sicherzustellen, dass du dich mir nicht nähern würdest. Ich habe… ich habe mir selbst nicht getraut. Ich habe nicht darauf vertraut, dass ich den Willen haben würde, fortzugehen.«

Sie sah ihn überrascht an.

Er entschuldigte sich. Und was sie noch mehr überraschte, war der Umstand, dass sie seine Entschuldigung akzeptierte. Nicht dass es nicht immer noch wehgetan hätte, dass er vor ihr davongelaufen war, dass er sich ins Bett einer Hure geflüchtet hatte, aber jetzt musste sie sich eingestehen, dass ihr die ganze Zeit über klar gewesen war, warum er so gehandelt hatte. Sie war ebenso wie er außerstande gewesen, ihre Affäre zu beenden, obwohl sie um den Schaden gewusst hatte, der daraus entstehen würde.

Verzeihe ich ihm? Und wenn ich es tue, was bedeutet das dann für uns? Sie wandte den Blick ab. Nichts. Wir können nicht noch einmal neu anfangen. Wir können nicht zusammen sein. Warum sollte ich mir das überhaupt wünschen? Ich habe Chaia.

Leiard beobachtete sie genau. Eine merkliche Spannung breitete sich zwischen ihnen aus.

Eine Bewegung im Nebenzimmer erinnerte sie an die Anwesenheit der Frau des Kranken. Kann sie uns hören? Auraya konzentrierte sich und spürte Neugier und Nachdenklichkeit. Die Frau konnte das wenige, was sie gehört hatte, nicht einordnen.

»Ich… verstehe«, sagte sie schließlich. »Das gehört der Vergangenheit an. Also… Lei…«

»Wilar«, unterbrach er sie.

»Nun gut. Wilar. Warum ist dein Geist beschirmt?«

Mit einem Mal trat ein argwöhnischer Ausdruck in seine Züge. Zu ihrer Verärgerung spürte sie, dass sie sich immer noch ein wenig zu ihm hingezogen fühlte. Es ist seine Rätselhaftigkeit, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Sie fasziniert mich. Alle anderen sind so leicht zu durchschauen. Ich kann alles über die Menschen in Erfahrung bringen, wenn ich es will, aber bei Leiard hatte ich immer das Gefühl, dass er irgendwelche Geheimnisse in sich birgt, obwohl ich damals seine Gedanken noch lesen konnte. Jetzt, da ich seine Gedanken nicht mehr lesen kann, bin ich umso neugieriger.

»Das hat ein alter Freund mir beigebracht. Ich habe es bis vor kurzem niemals für nötig erachtet, diesen Trick anzuwenden.«

Ein alter Freund? Sie lächelte, denn sie glaubte zu wissen, von wem er sprach. »Lauert Mirar immer noch irgendwo in deinem Geist?«

Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Nein.«

»Ah. Das ist gut. Du wolltest ihn schließlich loswerden.«

Er nickte, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Dann lenkte ein dumpfer Aufprall draußen vor der Laube sie beide ab. Reet stand im Eingang.

»Veeces Zustand hat sich wieder verschlechtert.«

Leiard runzelte die Stirn und erhob sich.

»Danke für das Essen«, rief er der Frau zu. Dann verließ er ohne ein Wort des Abschieds die Laube, schlüpfte in die Schlinge, die Reet für ihn bereithielt, und glitt davon.

30

Der Raum, den man Reivan als geweihter Götterdienerin zugewiesen hatte, war doppelt so groß wie ihr früheres Zimmer – was bedeutete, dass er immer noch nicht allzu groß war. Es war bereits spät, und sie sehnte sich nach Schlaf, aber sie hatte ihr Quartier kaum betreten, als es auch schon an der Tür klopfte. Sie seufzte. Es war ein Tag voller Störungen gewesen. Sie durchmaß noch einmal den Raum und öffnete die Tür, fest entschlossen, den Besucher, wer es auch sein mochte, wegzuschicken und ihn zu bitten, am Morgen wiederzukommen.

Nekaun stand draußen. Sie starrte ihn überrascht an.

»Ich habe einige Fragen an dich, Reivan. Darf ich hereinkommen?«

Sie riss sich zusammen und hielt die Tür auf. »Natürlich, Heiliger.«

Als er eintrat, befiel sie eine unerwartete Erregung. Was würden die anderen Götterdiener über ihren angesehenen Besucher sagen? Dann krampfte sich ihr Magen zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie eine amouröse Begegnung argwöhnen könnten. Als sie die Tür zuzog, blickte sie über ihre Schulter. Im Licht der einen Lampe, die sie für ihren Weg durch das Sanktuarium benutzt hatte, wirkte Nekaun noch attraktiver. Ihr Herz begann zu rasen. Was ist, wenn er mehr will, als nur ein paar Fragen zu stellen? Wäre ich damit einverstanden?

Sie schüttelte den Kopf. Mach dich nicht lächerlich – und hör auf, darüber nachzugrübeln!, befahl sie sich. Er kann deine Gedanken lesen, du Närrin. Verlegen beeilte sie sich, eine zweite Lampe zu entzünden, die den kleinen Raum sofort mit ihrem tröstlichen Licht erfüllte.

»Bitte, nimm Platz, Erste Stimme«, sagte sie. »Möchtest du etwas Wasser?«

»Nein«, erwiderte er, während er sich auf ihren einzigen Stuhl sinken ließ. »Aber vielen Dank.«

Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, dann hockte sie sich auf die Bettkante. Er schenkte ihr ein warmes Lächeln, und sie senkte, plötzlich gehemmt, den Blick.

»Ich wollte dich nach den Siyee befragen«, begann er. »Sie glauben anscheinend, sie seien von einem dieser zirklischen Götter erschaffen worden. Hältst du es für möglich, dass man sie von dieser Vorstellung abbringen könnte?«