Reivan runzelte die Stirn. »Vielleicht. Es wird erheblich schwieriger sein, sie zu bekehren, aber mit ein wenig Zeit und Mühe werden sie vielleicht begreifen, dass sie einem Irrglauben aufgesessen sind.«
»Zeit und Mühe. Sprichst du von einer langfristigen Bemühung oder einer Bemühung zu einem günstigeren Zeitpunkt?«
Sie sah ihn an. »Ich nehme an, dass irgendwann auch der Rest Ithanias den Fünfen huldigen wird. Es wäre einfacher, die Siyee zu diesem Zeitpunkt von ihren heidnischen Sitten abzubringen.«
Nekauns Blick war nachdenklich. »Es könnte sich lohnen zu warten, solange sie in der Zwischenzeit keine Bedrohung für uns darstellen.«
»Was könnte man sonst tun?«, fragte sie.
Er zögerte, dann stand er abrupt auf und begann, auf der kleinen Fläche zwischen dem Stuhl und der Tür auf und ab zu gehen. »Viele Siyee sind während des Krieges gestorben. Sie sind im Augenblick sehr verletzbar.«
»Du würdest sie angreifen?«, fragte sie überrascht. Dies war für seine Verhältnisse untypisch direkt und kriegerisch. Bisher waren seine Pläne raffiniert und ohne Blutvergießen gewesen.
»Das würde ich lieber vermeiden«, sagte er. »Nicht zuletzt weil es einen weiteren Krieg auslösen könnte.«
»Es könnte einen Krieg auslösen?« Sie schüttelte den Kopf. »Es würde einen Krieg auslösen.«
Er blieb stehen und drehte sich mit schmalen Augen zu ihr um. Einen Moment später entspannten sich seine Züge, und er lächelte. »Ah, Reivan. Imenja hatte recht, dich vor allen anderen auszuzeichnen. Du bist so erfrischend offen. Ich fühle mich versucht, dich selbst als Gefährtin zu erwählen.«
Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und wandte mit hämmerndem Herzen den Blick ab. Ich! Eine unbefähigte Frau! Gefährtin der Ersten Stimme!
Aber es war nicht nur Ehrgeiz, der ihren Puls rasen ließ. Sie atmete langsam ein und zwang sich, ruhiger zu werden.
»Ich… fühle mich geschmeichelt«, sagte sie. »Es wäre eine große Ehre für mich.«
Er lachte leise. »Imenja ist fest entschlossen, dich zu behalten, und sie wird dich zu den Elai mitnehmen. Ich werde mir jemand anderen suchen müssen, der mir offen die Meinung sagt, wenn ich sie hören will.« Er ging auf sie zu und streckte die Hand aus. Sie nahm sie und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen, aber er trat nicht zurück, um ihr Platz zu machen. Als sie ihm so nahe stand, dass sie die Wärme seines Atems auf ihrem Gesicht spüren konnte, lächelte er. »Ich danke dir dafür, dass du deine Überlegungen mit mir geteilt hast.«
Die Stimme erstarb ihr in der Kehle. Sie nickte und wich bewusst seinem Blick aus. Ihr Herz schlug abermals schneller, aber diesmal war sie außerstande, die Fassung zurückzugewinnen. Er strich ihr sachte über die Wange.
»Ich werde dich nicht länger aufhalten. Gute Nacht, Reivan.« Dann ließ er ihre Hand los und durchquerte den Raum. Er öffnete die Tür, blieb noch einmal stehen, um sie anzulächeln, und trat hinaus.
Als die Tür sich geschlossen hatte, stieß Reivan langsam den Atem aus, den sie, ohne es zu wissen, angehalten hatte. Es besteht nicht die geringste Chance, dass er nicht weiß, welche Wirkung er auf mich hat, dachte sie. Seine Worte entlockten ihr noch im Nachhinein ein ironisches Lachen. »Ich danke dir dafür, dass du deine Überlegungen mit mir geteilt hast.« Hatte er einen Scherz gemacht?
Sie seufzte und setzte sich. Wie groß sind die Chancen, dass ich diese Vernarrtheit überwinde, während ich fort bin? Gewiss dürften einige Monate auf See genügen, um wieder zu Verstand zu kommen.
Das kann ich nur hoffen, dachte sie. Oder diese Angelegenheit wird mir das Leben im Sanktuarium sehr, sehr ungemütlich machen.
Ich muss verrückt sein, ging es Mirar durch den Kopf, als er sich an dem Seil hinabgleiten ließ. Mir hätte klar sein müssen, dass Auraya hierherkommen würde, sobald sie von der Herzzehre erfahren hatte. Ich hätte fortgehen sollen, bevor sie hier ankam.
Aber hättest du das wirklich getan?, fragte Leiard.
Mirar runzelte die Stirn. Es hätte bedeutet, dass ich die Siyee hätte im Stich lassen müssen. Jene, die nicht gegen die Krankheit kämpfen können, wären ohne meine Hilfe gestorben.
Ja. Deshalb bist du auch geblieben, nachdem sie hier erschienen ist.
Ich wäre ohnehin nicht weit gekommen. Sie hätte mich gefunden. Und wenn ich vor ihrer Ankunft aufgebrochen wäre, hätte sie Geschichten über einen Traumweber gehört und sich auf die Suche nach mir gemacht.
Sie hätte zu viel zu tun gehabt, die Siyee zu heilen, um nach dir Ausschau zu halten, warf Leiard ein. Geradeso, wie sie auch jetzt noch zu beschäftigt wäre, um dir zu folgen. Warum bleibst du also?
Mirar seufzte. Der Schaden war bereits angerichtet. Auraya muss gleich bei unserer ersten Begegnung bemerkt haben, dass mein Geist beschirmt ist. Sie hätte in jedem Fall Verdacht geschöpft.
Das hat sie aber nicht getan. Sie war verwirrt, aber nicht argwöhnisch. Deine Erklärung hat sie zufrieden gestellt. Sie versteht die Bedeutung der Gedankenabschirmung nicht.
Entweder die Götter haben es ihr nicht gesagt, oder sie versteht sich darauf, ihren Verdacht gut zu verbergen.
Warum sollte sie das tun?
Weil sie mich braucht. Sie weiß nur, dass ich imstande bin, meine Gedanken zu verbergen.
Und dass du mit Magie heilen kannst, wie es nur Unsterbliche vermögen. Warum hast du ihr das offenbart?
Wenn ich es nicht getan hätte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als jemanden sterben zu lassen. Und auch in diesem Fall hat die Heilung sie anscheinend lediglich erstaunt, nicht erschreckt. Ich glaube, dass sie auch die Bedeutung dieses Umstands nicht versteht.
Aber die Götter verstehen es.
Ja. Doch sie wissen nur, dass ich ein Traumweber bin, der zufällig über genug Macht verfügt, um mit Magie zu heilen. Sie wissen nicht, ob ich auch gelernt habe, meinen Alterungsprozess aufzuhalten. Wenn ich mich so benehme, als hätte ich etwas zu befürchten, werden sie erraten, dass ich mehr weiß, als ich sollte. Das ist der Grund, warum ich nicht fortgehen kann. Er zog sich wieder an dem Seil hoch.
Sie werden es nicht riskieren, sich darauf zu verlassen, dass du kein Unsterblicher geworden bist, warnte Leiard ihn. Sie warten lediglich auf einen günstigen Zeitpunkt. Im Augenblick bist du ihnen von Nutzen, aber sobald die Siyee in Sicherheit sind, werden die Götter dich töten lassen.
Von wem? Auraya? Es wäre ein wenig viel verlangt, ihre neueste Weiße darum zu bitten, ihren ehemaligen Geliebten zu töten, meinst du nicht auch?
Du gehst ein ungeheures Risiko ein. Wenn sie um deine wahre Identität wüsste, würde sie nicht zögern, dich zu töten.
Und ich bin nicht dumm genug, es ihr zu erzählen. Ebenso wenig wie ich dumm genug bin, länger hierzubleiben als unbedingt notwendig. Sobald die Siyee genesen sind, werde ich fortgehen.
Reet stand wie immer auf der nächsten Plattform bereit und wartete auf Mirar. Als dieser sein Ziel erreichte, trat der Junge vor, um ihm aufzuhelfen.
Plötzlich wandte Reet sich ab und stieß einen heiseren Laut aus. Mirar legte ihm die Hand auf die Schulter und spürte, wie der Husten den Jungen schüttelte.
»Geh hinein und ruh dich aus.«
Reet verzog das Gesicht. »Wenn ich mich hinlege, werde ich vielleicht nicht wieder aufstehen.«
»Das wird in jedem Fall geschehen, wenn du dich nicht ausruhst.«