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Kurze Zeit später kamen sie in eine andere Gasse. Der Junge zog sie hinter sich her, und sie gingen mehrere Treppen hinunter. Eine breitere Straße folgte, dann standen sie auf grasbewachsenen Dünen, die sich an der Bucht entlangzogen. Er bog in einen Feldweg ein und steuerte, ohne ihren Arm loszulassen, auf eine felsige Landzunge zu.

Als sie näher kamen, nahm sie das Tosen des Meeres wahr. Der Junge führte sie von dem Trampelpfad weg und ließ ihren Arm los. Er eilte auf die Felsen zu und sprang von Stein zu Stein.

Hat sich jemand bei einem Sturz von diesem Felsen verletzt?, überlegte sie. Oder es könnte jemand ertrunken sein. Hoffentlich ist es nicht das. Manchmal verstanden es Menschen mit beschränkter Geisteskraft nicht, wenn jemand tot war. Sie glaubten dann, derjenige sei lediglich krank.

Der Junge drehte sich zu ihr um und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Seine Stimme war über dem Donnern der Brandung kaum zu hören.

»Komm und sieh.«

Sie beschleunigte ihre Schritte. Er wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte, bevor er weiterging. Die Felsen wurden größer und zerklüfteter. Emerahl brauchte fast ihre ganze Konzentration, um nicht auszurutschen. Das Tosen des Meeres wurde lauter. Als sie sich nach ihrer Schätzung etwa auf halbem Weg bis zum Ende der Landspitze befand, blieb der Junge plötzlich stehen und wartete auf sie.

Einige Schritte entfernt quoll ein Wasserstrahl aus dem Boden.

Er wuchs auf zweifache Mannshöhe an, schwebte eine Sekunde lang in der Luft und stürzte dann in eine breite Senke hinab, wo er durch eine Öffnung in den Felsen sickerte. Emerahl war verwirrt, und ihr Herz hämmerte.

Der Junge grinste breit. Er ging zu dem höchsten Felsbrocken und kletterte hinauf. Nachdem er sich gesetzt hatte, winkte er sie heran.

Ist das der einzige Grund, warum er mich hierhergebracht hat?, dachte sie.

»Komm herauf«, rief er.

Emerahl holte tief Luft, schob ihren Ärger beiseite und machte sich an den Aufstieg. Als sie oben ankam, lächelte er und klopfte auf den Felsen neben ihm.

»Setz dich, Emerahl.«

Sie hielt inne, starr vor Schreck darüber, ihren Namen zu hören, ebenso wie über die Erkenntnis, dass der Junge in einer lange ausgestorbenen Sprache gesprochen hatte. Als ihr dämmerte, wer er war, konnte sie ihn nur anstarren. Er sah lächelnd zu ihr auf. Seine unnatürlich leuchtenden Augen waren nicht die eines zurückgebliebenen Kindes, sondern die eines Geistes, der viel älter war, als sein Körper erschien.

»Bist du…?« Sie ließ ihre Frage bewusst unvollendet. Falls er nicht derjenige war, nach dem sie suchte, hatte es keinen Sinn, ihm einen Namen zu geben.

»Die Möwe?«, sagte er. »Ja. Möchtest du, dass ich es beweise?« Er legte die Hände zusammen und pfiff.

Einen Moment später schoss etwas an ihrem Ohr vorbei. Ein Seevogel verharrte flügelschlagend über den zusammengelegten Händen des Jungen, und Emerahl sah, wie das Tier einen Gegenstand aus seinen Krallen fallen ließ, bevor es sich wieder in die Luft schwang. Der Junge streckte die Arme aus. In seinen Händen lag eine Mondmuschel, an der ein Seil aus Altweiberhaar befestigt war. Er zupfte eine Strähne aus dem Gras und ließ sie dann vom Wind davontreiben.

Sie setzte sich.

»Wir dachten, du wärst tot«, sagte er.

Emerahl lachte. »Ich dachte, du seist tot. Warte… du hast ›wir‹ gesagt. Gibt es noch andere Unsterbliche aus dem vergangenen Zeitalter?«

»Ja.« Er wandte den Blick ab. »Ich werde nicht verraten, wer es ist. Es ist nicht an mir, das zu offenbaren.«

Sie nickte. »Natürlich.«

»Also, warum hast du dich mir offenbart?«

Während sie überlegte, wo sie beginnen sollte, atmete sie tief durch. »Ich habe den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts als Einsiedlerin gelebt. So wäre es noch immer, wenn nicht ein Priester beschlossen hätte, mir einen Besuch abzustatten. Ich habe mich davongestohlen und bin seither ohne Unterlass auf Reisen.«

»Die Zirkler haben dich gejagt«, sagte die Möwe.

Sie sah ihn überrascht an. »Ja. Woher weißt du das?«

»›Das Gerede der Seeleute verbreitet sich schneller als die Seuche‹«, zitierte er.

»Ah. Dann weißt du also, dass ich vor ihnen geflohen bin.«

»Ja. Sie haben dich in Porin verloren, etwa zu der Zeit, als die Nachricht von der Invasion der Pentadrianer kam. Wohin bist du anschließend gegangen?«

»Ich… äh… ich bin der torenischen Armee gefolgt.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«

»Ich habe mich einem Bordell angeschlossen. Das war zu der Zeit das beste Versteck.« Sie stellte fest, dass seine Miene weder Widerwillen noch Missbilligung zeigte. »Das Bordell ist hinter der torenischen Armee hergereist, und ich fand, dass dies eine gute Möglichkeit war, um unbemerkt aus der Stadt zu entkommen.«

Seine Augen leuchteten auf. »Hast du die Schlacht mit angesehen?« Er klang wissbegierig, ganz wie ein gewöhnlicher Junge, den die Vorstellung erregte, eine echte kriegerische Auseinandersetzung zu beobachten.

»Den größten Teil davon. Am Ende bin ich aufgebrochen, nachdem ich einem… alten Freund begegnet war. Bevor ich beschloss, nach dir zu suchen, war ich einige Zeit in Si.«

»Ein alter Freund, wie?« Er kniff die Augen zusammen. »Wenn du während des letzten Jahrhunderts als Einsiedlerin gelebt hast, muss dieser Freund wahrlich alt sein.«

»Vielleicht.« Sie lächelte. »Vielleicht ist es nicht an mir, das zu offenbaren.«

Er kicherte. »Interessant. Was für eine Ironie es doch wäre, wenn sich herausstellte, dass dieser Freund und mein Freund ein und derselbe wären.«

»Ja, aber das ist nicht möglich.«

»Nein? Dann sind also mehr als nur einige wenige von uns den Göttern entkommen.«

Emerahl nickte. »Auf unterschiedliche Weise.«

»Ja. Für mich war es einfach. Es war schon lange schwer, mich zu finden. Ich habe einfach dafür gesorgt, dass es noch schwerer wurde.«

Sie sah den Jungen an. »Und doch hast du nach mir gesucht.«

»Das ist wahr.«

»Warum?«

»Warum hast du nach mir gesucht?«

»Um herauszufinden, ob noch andere Unsterbliche überlebt haben – und wie. Um dir meine Hilfe anzubieten, solltest du sie jemals benötigen. Um festzustellen, ob ich dich jemals meinerseits um Hilfe würde bitten können.«

»Wenn du so lange überlebt hast, bezweifle ich, dass du meine Hilfe brauchen wirst«, sagte die Möwe leise.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht für den Rest der Ewigkeit wie eine Einsiedlerin leben.«

»Dann bist du also auf der Suche nach Gesellschaft.«

»Ja, ebenso wie nach den möglichen Vorteilen, die mächtige Freunde mit sich bringen.«

Er grinste. »Da bist du nicht die Einzige. Ich würde in dir gern einen meiner mächtigen Freunde sehen.«

Sie lächelte, und ihre Freude und Erleichterung waren größer, als sie erwartet hatte. Vielleicht bin ich nach all diesen Jahren, in denen ich allein gelebt habe, ein wenig einsam.

»Wie auch immer«, fuhr er mit plötzlich ernster Miene fort. »Ich kann nicht beurteilen, ob mein Freund einverstanden wäre. Wenn mein Freund sich dagegen ausspricht, werde ich seinen Rat befolgen. Ich schätze ihn sehr. Du musst seine Zustimmung finden. Anderenfalls…« Er grinste entschuldigend. »Anderenfalls dürfen wir nicht noch einmal miteinander sprechen.«

»Wie kann ich die Zustimmung dieses Freundes erringen?«

Der Junge schürzte die Lippen. »Du musst zu den Roten Höhlen in Sennon gehen. Wenn ein Tag verstreicht und du niemandem begegnet bist, ist die Zustimmung verwehrt worden.«

»Und wenn mir die Zustimmung gewährt wird?«

Er lächelte. »Wirst du meinem Freund begegnen.«

Sie nickte. Sennon befand sich auf der anderen Seite des Kontinents. Es würde Monate dauern, um dorthin zu gelangen.