Er war vermutlich vierzig, fünfundvierzig, und bei seinem Dienstgrad mußte er tüchtig sein. Er sah aus, als gönne er sich gewohnheitsmäßig zuwenig Bewegung und zu viele Sandwiches, und machte nicht den Eindruck, als sonne er sich in seiner Macht. Vielleicht konnte er jetzt, wo er seinen vorschnellen Verdacht gegen Malcolm aufgegeben hatte, den Fall sogar lösen — allerdings hatte ich gehört, daß die große Mehrzahl der Kriminellen im Gefängnis saß, weil man sie verraten, nicht weil man sie ertappt hatte. Ich wünschte ihm den Erfolg sehr. Ich wünschte, er hätte sich spontan überwinden können, seine Gedanken mitzuteilen, nahm aber an, daß er darauf trainiert war, das nicht zu tun. Jedenfalls behielt er sie bei dieser Gelegenheit für sich und ich meine für mich; vielleicht war es schade drum.
Eine Polizistin kam herein und sagte gehetzten Blickes, sie wisse nicht, wohin mit der Familie Pembroke.
Yale überlegte kurz und forderte sie auf, alle in sein Büro zu führen. Malcolm sagte:»O Gott«, zog heftig an seiner Zigarre, und wenig später traf die ganze Truppe ein.
Ich stand auf, und Alicia setzte sich sofort an meinen Platz. Vivien und Joyce funkelten vereint den noch sitzenden Malcolm an, um ihn zum Aufstehen zu bewegen, aber er rührte sich nicht. Ich verschluckte ein Lachen. Welcher von beiden hätte er wohl seinen Platz überlassen können, ohne zwischen den Exfrauen ein Blutvergießen hervorzurufen?
Mit ernstem Gesicht bat Yale die Polizistin, noch zwei Stühle zu holen, und ich konnte nicht einmal abschätzen, ob er belustigt oder bloß praktisch war. Als Vivien und Joyce angemessen thronten, blickte er in die Runde und zählte uns: dreizehn.
«Wer fehlt?«fragte er.
Es gab diverse Antworten:»Meine Frau Debs«,»Thomas, mein Mann«,»Ursula natürlich.«
«In Ordnung. Also, wenn irgendwer von Ihnen etwas über die Explosion in Quantum weiß oder eine Vermutung hat, dann möchte ich das jetzt hören.«
«Terroristen«, meinte Vivien.
Keiner beachtete sie, und außer ihr meldete sich niemand zu Wort.
«Da Sie schon einmal hier sind«, sagte Yale,»möchte ich Sie alle um die Beantwortung gewisser Fragen bitten. Mein Stab wird Ihre Antworten schriftlich festhalten, und danach können Sie selbstverständlich gehen. Die Fragen sind, was haben Sie gestern von drei Uhr nachmittags bis Mitternacht gemacht, was haben Sie Dienstag vor einer Woche um die gleiche Zeit gemacht, und was haben Sie Freitag vor zwei Wochen gemacht, ebenfalls zwischen 15 Uhr und Mitternacht.«
Edwin sagte mürrisch:»Als hätten wir das nicht schon größtenteils diesem blöden West beantwortet! Es ist doch eine Zumutung, das jetzt noch mal durchzukauen.«
Einige andere nickten.
Yale sah verständnislos drein.»Wer ist West?«
«Ein Detektiv«, sagte Berenice.»Dem habe ich ganz schön eine Abfuhr erteilt, das können Sie mir glauben.«
«Er war furchtbar hartnäckig«, erinnerte sich Helen ärgerlich.»Ich sagte ihm, ich könnte mich unmöglich genau erinnern, aber er bohrte trotzdem weiter.«
«Gräßlicher kleiner Mann«, warf Serena ein.
«Er sagte, ich sei illegitim«, klagte Gervase bitter.»Das wußte er, dank Joyce.«
Yales Mund ging auf und zu, und er holte tief Luft.»Wer ist West?«fragte er eindringlich.
«Ein Bursche, den ich engagiert habe«, sagte Malcolm.
«Privatdetektiv. Beauftragte ihn, herauszufinden, wer mir ans Leben wollte, da ich annahm, daß die Polizei nicht weiterkam.«
Yale bewahrte mehr oder weniger Haltung.»Trotzdem«, sagte er,»beantworten Sie die Fragen bitte noch einmal. Und diejenigen von Ihnen, die ohne Ehepartner hier sind, antworten bitte, so gut es geht, auch für die Partner. «Er blickte in die Gesichter ringsum, und ich hätte schwören können, daß er verwirrt war. Ich schaute hin, um zu sehen, was er gesehen hatte, und ich erblickte die Gesichter von Durchschnittsmenschen, nicht von Mördern.
Durchschnittsmenschen mit Sorgen und Problemen, mit Eigenarten und Ressentiments. Menschen, die betroffen und beunruhigt waren über die Zerstörung des Hauses, in dem die meisten von ihnen gelebt und das sie alle besucht hatten. Unmöglich, daß einer von ihnen der Mörder war, dachte ich. Es mußte doch ein Außenstehender sein.
Ich war sehr erleichtert über diese Schlußfolgerung, bis ich begriff, daß mir jeder Vorwand recht war, um nicht einen Mörder in unserem Kreis suchen zu müssen; und doch mußten wir einen finden, wenn Malcolm am Leben bleiben sollte. Die
Zwickmühle bestand noch.
«Das war’s erst mal«, sagte Yale und erhob sich.»Mein Stab wird Ihre Aussagen nebenan zu Protokoll nehmen. Und Mr. Pembroke senior, bleiben Sie noch einen Augenblick hier? Und auch Mr. Ian Pembroke? Es sind noch Anordnungen wegen des Hauses zu treffen.«
Die Familie ließ mich ungern zurück.»Es ist meine Aufgabe, nicht Ians, mich um alles zu kümmern. Ich bin der Älteste. «Dies von Donald.»Du brauchst jemand, der sich auskennt. «Dies von Gervase, mit schwerer Stimme.»Es ist nicht Ians Haus. «Verdrossenheit von Edwin.
Yale schaffte es jedoch, sie alle hinauszubugsieren, und sobald die Tür wieder zu war, sagte ich:»Während sie befragt werden, bringe ich meinen Vater hier weg.«
«Das Haus…«:, begann Malcolm.
«Um das Haus kümmere ich mich später. Wir verschwinden jetzt hier, aber sofort. Wenn Kommissar Yale uns einen Polizeiwagen zur Verfügung stellt, ist es gut; sonst nehmen wir den Bus oder ein Taxi.«
«Innerhalb vernünftiger Grenzen können Sie ein Polizeiauto haben«, sagte Yale.
«Ausgezeichnet. Dann, ehm… lassen Sie nur meinen Vater schon zum Bahnhof bringen. Ich bleibe noch.«
«In Ordnung.«
Zu Malcolm sagte ich:»Fahr nach London. Geh dahin, wo wir gestern übernachtet haben. Nimm denselben Namen. Telefonier nicht rum. Laß um Gottes willen niemand wissen, wo du steckst.«
«Du bist verdammt überheblich.«
«Ja. Hör diesmal auf mich.«
Malcolm warf mir einen blau funkelnden Blick zu, stubste seine Zigarre aus, stand auf und ließ die rote Wolldecke von seinen Schultern auf den Boden gleiten.
«Wohin fahren Sie?«fragte ihn Yale.
«Nicht antworten«, sagte ich schroff.
Malcolm blickte erst mich, dann den Kommissar an.
«Ian weiß, wo ich mich aufhalte. Wenn er’s Ihnen nicht sagen will, erfahren Sie es nicht. Gervase hat mal versucht, etwas aus ihm herauszuholen, indem er ihn verbrannt hat, und es war zwecklos. Er hat heute noch die Narben…«, er wandte sich an mich,»… stimmt’s?«
«Malcolm!«protestierte ich.
Malcolm sagte zu Yale:»Ich habe Gervase eine Tracht Prügel verabreicht, die er nie vergessen wird.«
«Und er hat mir nie verziehen«, sagte ich.
«Verziehen? Was denn? Du hast doch nicht gepetzt. Das war Serena. Sie war noch so klein, daß sie gar nicht richtig begriff, was sie gesehen hatte. Gervase konnte ein echter Tyrann sein.«
«Komm«, sagte ich,»wir vergeuden Zeit.«
Kommissar Yale folgte uns aus seinem Büro und beorderte einen Fahrer für Malcolm ab.
«Ich komme mit dem Wagen, sobald ich kann«, sagte ich zu ihm.»Geh nicht einkaufen, ich besorge uns schon was. Sei bitte vernünftig.«
«Versprochen«, sagte er; aber Malcolms Versprechungen waren nicht unbedingt bindend. Er ging mit dem Fahrer hinaus, und ich beobachtete von der Eingangstreppe der Polizeistation seine Abfahrt und vergewisserte mich, daß niemand von der Familie ihn gesehen hatte oder ihm folgen konnte.
Yale äußerte sich nicht dazu, winkte mich aber wieder in sein Büro. Dort gab er mir eine Auswahlliste renommierter Bauunternehmer und stellte mir sein Telefon zur Verfügung. Ich wählte aufs Geratewohl eine der Firmen an, erklärte, um was es ging, und Yale übernahm den Hörer selbst und bestand darauf, daß nur der nötigste Wetterschutz anzubringen sei und der Schutt nicht transportiert werden dürfe, bis die Polizei grünes Licht gab.