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In dem winzigen Raum hing ein leicht süßlicher Geruch in der Luft. Räucherstäbchen? Kölnischwasser? Es roch fast wie Marihuana.

»Ich muß Sie um einen Gefallen bitten«, sagte Dr. Li schließlich. Er hatte die Stimme fast zu einem Flüstern gesenkt. Jamie merkte, daß er sich ein wenig vorbeugte, um Lis Worte über das unablässige Zischen der Luft hinweg zu hören, die durch die Heizungsrohre strömte.

Mit einem beinahe verstohlenen Blick auf den orangefarbenen Bildschirm des Computers auf seinem Schreibtisch fuhr Li fort: »Sie haben hier sehr gute Arbeit geleistet — und bei Ihren anderen Trainingsaktivitäten ebenfalls.«

»Danke.« Jamie verneigte sich leicht.

»Ich wüßte gern, was Sie davon halten würden, weitere sechs Wochen zu bleiben.«

»Zu bleiben? Hier?«

»Die Gruppe, mit der Sie gearbeitet haben, soll als nächstes nach Utah gehen, glaube ich.« Ein weiterer Blick auf den Computerbildschirm. »Ja, Überlebenstraining in der hochgelegenen Wüste.«

Bevor Jamie etwas erwidern konnte, fügte Li hinzu: »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie hier in McMurdo bleiben und der nächsten Gruppe helfen würden, sich an die arktische Umgebung zu akklimatisieren. Es wäre mir und Ihren Wissenschaftlerkollegen eine außerordentliche Hilfe.«

Jamies Gedanken rasten. Er ist gerade zum Expeditionskommandanten ernannt worden. Es wäre nicht klug, ihm seinen Wunsch abzuschlagen. Aber warum bittet er mich darum? Warum gerade mich?

»Äh … wir zehn haben weitgehend als Einheit trainiert, wissen Sie.«

»Das ist mir durchaus bewußt«, sagte Dr. Li. »Aber Ihnen ist doch sicherlich klar, daß die zu Trainingszwecken zusammengestellten Gruppierungen nicht mit den Teams identisch sein werden, die man für den Flug selbst auswählen wird.«

Jamie nickte. Er fragte sich, was hier vorging, und warum.

»Zu der Gruppe, die als nächste hier eintreffen wird, gehört Doktor Joanna Brumado. Sie ist eine ausgezeichnete Mikrobiologin.«

»Ich habe sie bereits kennengelernt.«

Li nickte langsam. Dann sagte er ganz leise: »Die Tochter von Alberto Brumado.«

Jamie lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Jetzt verstand er. Auf Alberto Brumados Tochter würde besonderes Augenmerk gerichtet sein. Die anderen Wissenschaftler mußten selbst sehen, wie sie zurechtkamen; entweder sie überstanden das harte Training, oder sie wurden von der Liste der potentiellen Mitglieder des Marsteams gestrichen. Aber bei Brumados Tochter lagen die Dinge anders. Sie wollen sichergehen, daß sie ihre sechs Wochen hier schaffte, ohne die Brocken hinzuschmeißen.

Weil er nicht wußte, was er sonst tun sollte, sagte Jamie: »Ich verstehe. Okay, in Ordnung. Ich bleibe die nächsten sechs Wochen hier und helfe der Gruppe, so gut ich kann.«

Dr. Li lächelte, aber sein Lächeln wirkte auf Jamie eher traurig als fröhlich. »Vielen Dank, Doktor Waterman. Ich bin Ihnen zutiefst dankbar.«

Jamie stand auf. Dr. Li streckte ihm die Hand hin und wünschte ihm alles Gute.

Erst als er den Flur auf dem Rückweg zu seinem Quartier schon halb durchquert hatte, begriff Jamie, was Lis Bitte bedeutete. Er würde die nächsten sechs Trainingswochen versäumen. Er wurde gebeten, als spezieller Lehrer-Führer-Begleiter für Alberto Brumados Tochter zu fungieren.

Sie hatten ihn schon aus dem Aufgebot für die Marsmission gestrichen. Er war zum Ausbilder degradiert worden. Sie hatten also nicht im entferntesten die Absicht, ihn zum Mars fliegen zu lassen.

2

Sämtliche Wissenschaftler, die für die Marsmission in Betracht kamen, hatten einander natürlich bereits getroffen, und häufig mehr als einmal, da ihr Training eine Art Hüpfspiel mit Feldern in aller Welt war. Aber es war viele Monate her, daß Jamie Joanna Brumado gesehen hatte. Er hatte kaum ein Dutzend Worte mit der Frau gesprochen.

Jamie begab sich zum Eingangsbereich der schneebedeckten Basis, um sich von den Männern und Frauen, mit denen er trainiert hatte, zu verabschieden, und nicht so sehr, um die Neuankömmlinge willkommen zu heißen. Die Mitglieder seiner Gruppe sahen ihn bereits mitleidig an; aus ihren Blicken sprach Mitgefühl mit einem Mann, der es offenkundig nicht schaffen würde. Einige von ihnen scheuten in diesem letzten Moment beinahe vor ihm zurück, als hätten sie Angst, durch die Berührung eines Verlierers angesteckt zu werden.

Dr. Li zog einen Handschuh aus und schüttelte Jamie zum Abschied feierlich und wortlos die Hand. Seine Haut fühlte sich trocken und schlaff an, wie die einer tote Eidechse.

Jamie blieb an der Tür stehen, gerade eben außerhalb des schneidenden Windes, in seinen unförmigen Parka gehüllt, und sah zu, wie seine ehemaligen Teamkameraden zu dem wartenden Bus trabten, der sie zu dem aus dem Eisschelf herausgehauenen Flugplatz bringen würde. Der Bus wurde von einem riesigen Flachbagger mit einem Schneepflug vorne dran gezogen. Zuviel des Guten, dachte Jamie. Die Straßen der Basis waren gepflügt worden, und es hatte seit Tagen nicht mehr geschneit.

Zehn Personen in Parkas mit Kapuzen, in denen man Männer und Frauen nicht unterscheiden konnte, duckten sich gegen den eisigen Wind und sprinteten vom Eingang der Hütte zum Bus. Sie trugen allesamt silberne Metallkoffer und weiche Kleidersäcke bei sich — ihre kostbaren persönlichen Kleidungsstücke und ihre wissenschaftliche Ausrüstung. Alle bis auf den ausgemergelten Dr. Li, der nur seinen Laptop und einen kleinen Seesack dabei hatte. Die Vogelscheuche reist mit leichtem Gepäck, dachte Jamie.

Zehn ähnlich gekleidete und bepackte Gestalten arbeiteten sich durch den fauchenden Wind vom Bus zum Eingang vor, wo Jamie stand. Es fiel Jamie nicht schwer, die kleine Joanna Brumado unter den zehn auszumachen, die durch den Eingang strömten und sich nach dem kurzen Sprint vom Bus zur Tür der Hütte den pappigen Schnee von den Stiefeln stampften. Er sah auch, daß Antony Reed unter den Neuankömmlingen war.

Ebenso wie Franz Hoffmann.

Wortlos drehte Jamie sich zu der Holztreppe um, die zur Hauptetage der Hütte hinunterführte, und machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft.

Erst als die neue Gruppe kurz vor dem Mittagessen im Speisesaal zusammenkam, fand Jamie die Kraft, hinauszugehen und sie zu begrüßen.

Der Speisesaal war der größte Raum in der Hütte, die man dem Marsprojekt zur Verfügung gestellt hatte: Er bot vollen dreißig Personen an seinen langen Resopaltischen Platz. Joanna saß mit Tony Reed und Dorothy Loring, einer kanadischen Biologin, am Ende eines dieser Tische.

»Was dagegen, wenn ich mich dazusetze?« fragte Jamie.

Reed schaute auf. »Waterman? Was machen Sie denn noch hier?«

Jamie bemühte sich, eine ausdruckslose Miene beizubehalten, während er sich einen Stuhl heranzog.

»Ich bin gebeten worden, hierzubleiben und euch bei der Akklimatisierung zu helfen.«

Reed warf einen Blick zu Joanna hinüber, dann wandte er seine Aufmerksamkeit rasch wieder Jamie zu. »Ich verstehe.«

Das richtige Wort für Antony Reed war ›aalglatt‹. Er sah so aus, wie sich der Durchschnittsamerikaner einen Engländer aus der Oberschicht vorstellte, und tatsächlich war er auch beinahe einer. Sportliche, gleichwohl schmale und zierliche Figur, wie man sie von Tennis, Handball und vielleicht Polo bekommt. Hübsches Gesicht mit zierlichen Wangenknochen und scharf geschnittenem Profil. Ordentlicher kleiner Schnurrbart, sandfarbenes Haar, das ihm spitzbübisch in die Stirn fiel. Er trug einen königsblauen Overall mit exakter Bügelfalte und einen weißen Rollkragenpullover darunter, und es gelang ihm beinahe, den Eindruck zu erwecken, als sei das eine flotte Seglerkluft. Aber seine Augen waren zu alt für sein Gesicht, dachte Jamie. Eisblaue, kühl berechnende Augen.

Reed war Arzt. Er hatte es abgelehnt, die noble Praxis seines Vaters in London zu übernehmen, und es vorgezogen, als Fliegerarzt zum britischen Astronautenkorps zu gehen. Als die Europäische Gemeinschaft in das internationale Marsprojekt einstieg, hatte Reed sich sofort beworben. Er strahlte das ruhige Selbstvertrauen eines Mannes aus, der genau wußte, daß er zum Mannschaftsarzt der Marsexpediton ernannt werden würde.