Naguib klopfte ihm väterlich auf den Rücken. »Selbst drei Jahre würden nicht reichen. Ein Mensch könnte sein ganzes Leben damit verbringen, dieses Ungetüm zu untersuchen.«
»Es ist nicht fair!« explodierte Patel und schlug mit der Faust auf die Rücklehne des leeren Fahrersitzes. »Ich bin nur aus einem einzigen Grund zum Mars geflogen, nämlich um die Tharsis-Schildvulkane zu untersuchen, und jetzt hat dieser…
dieser… Emporkömmling…«
»Beruhigen Sie sich, mein Freund«, sagte Naguib. »Beruhigen Sie sich. Akzeptieren Sie, was nicht zu ändern ist.«
Patel trat abrupt zurück und ging durch das Rover-Modul bis zur Luftschleuse. Dann drehte er sich zu dem Ägypter um.
Die beiden Männer standen schweigend da und sahen einander durch das lange, schmale Modul hindurch an: der schlanke Hindu mit den feuchten Augen, dessen dunkles Gesicht glänzte, als wäre es in Schweiß gebadet; der ältere, stämmigere Geophysiker mit den ergrauenden Schläfen, um dessen Mundwinkel und Augen sich tiefe Falten gegraben hatten.
»Als nächstes werden Sie mir noch erzählen, dies sei Allahs Wille«, sagte Patel.
»Ich bin Atheist«, erwiderte Naguib mit sanftem Lächeln.
»Aber mir ist klar, daß unser Navajo-Freund den Sieg über die Missionsleiter davongetragen hat und daß die Amerikaner die Kontrolle über den Missionsplan an sich gerissen haben. Es gibt nichts, was wir dagegen tun können.«
Sie hörten die schweren Schritte der anderen beiden Männer, die in die Luftschleuse traten. Pateis schlanke Hände ballten sich zu Fäusten, und Naguib dachte einen Moment lang, daß er Waterman mit Freuden ermorden würde.
Während die drei Geologen auf ihrer Exkursion waren, verbrachten die drei Biologinnen ihre freie Zeit mit der Planung der bevorstehenden Reise zum Tithonium Chasma.
Sie saßen am Eßtisch, der mit Karten und von den Raumschiffen im Orbit aus aufgenommenen Fotos übersät war. Sie hatten sich Jamies Videobänder immer wieder angesehen und kannten sie mittlerweile in- und auswendig.
»Ist es wirklich denkbar, daß es sich bei der Formation um eine Art Bauwerk handelt?« fragte Monique Bonnet.
Tony Reed hatte die drei Frauen mit ihren Fotos und Karten in die Messe gehen sehen und sich zu ihnen gesetzt. »Bei Jamie ist das eine Projektion, ein wohlbekanntes psychologisches Phänomen«, tat er den Gedanken ab. »Wir sehen, was wir sehen wollen. Wir hören, was wir hören wollen. So machen Wahrsagerinnen ihr Geld – sie erzählen ihren Kunden, was diese hören wollen, ganz gleich, wie haarsträubend es ist. Etwas in Jamies Unterbewußtsein wollte Felsenbehausungen sehen – und voilá: er sah sie.«
Ilona lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie erinnerte Reed an einen gelbbraunen Jaguar, der sich auf dem Ast eines Baumes ausstreckte.
»Die Formation existiert wirklich. Sie ist kein Phantasiegebilde. Wenn wir dort sind, werden wir ja sehen, ob sie natürlich oder künstlich ist«, sagte sie. Ihre heisere Stimme klang beinahe gelangweilt. »Aber zunächst mal müssen wir festlegen, wer von uns mit Jamie auf die Exkursion geht.«
Joanna nickte zustimmend und drehte sich dann zu Monique um.
»Ihr fahrt«, sagte die französische Geochemikerin. »Ihr beide.
Ich bleibe hier und kümmere mich um die Pflanzen.«
Ilona sah sie stirnrunzelnd an.
»Willst du denn nicht mitfahren?« fragte Joanna.
Monique hob anmutig die Schultern. »Ihr seid viel erpichter darauf als ich. Und ich finde es auch sinnvoller, daß unsere Biologin und Biochemikerin daran teilnehmen.«
»Aber du gehörst auch zu unserem Biologieteam«, sagte Ilona und setzte sich aufrecht hin. »Wir werden deine Sachkenntnis bei der Untersuchung des Bodens auf dem Grund des Canyons brauchen.«
»Ihr könnt mir ja Proben mitbringen.«
»Und was ist mit Fossilien?« fragte Joanna mit besorgter Miene. »Du hast die beste paläontologische Ausbildung. Es wäre möglich, daß wir etwas übersehen.«
Monique lachte hell auf. »Wenn es da draußen irgendwelche Knochen oder Schädel gibt, findet ihr sie bestimmt ebenso leicht wie ich.«
»Und wenn es Mikrofossilien sind?« fragte Reed.
Sie wandte dem Engländer ihr lächelndes Gesicht zu. »Tony, ich habe jede Bodenprobe untersucht, die wir bisher genommen haben. Ich habe Steine zerschlagen und mikroatomdünne Scheiben unters Mikroskop gelegt. Hier gibt es keine Fossilien.
Und auch keine Mikroben, weder lebendige noch längst tote.«
Reed zupfte etwas zögernd an seinem dünnen Schnurrbart.
»Nun ja…«
»Aber Monique«, sagte Joanna, »angenommen, wir stoßen auf dem Grund des Canyons auf Fossilien, erkennen sie aber nicht als solche? Organismen, die auf dem Mars beheimatet sind. Woher sollen wir wissen, daß wir Fossilien vor uns haben?«
»Woher sollte ich es wissen?« erwiderte Monique. »Oder sonst jemand von uns?«
Joanna warf ihren Kolleginnen am Tisch einen unsicheren Blick zu.
Reed setzte ein breites Grinsen auf. »Ein klassisches Problem, nicht wahr? Woran erkennt man etwas, das man noch nie gesehen hat?«
Die drei Frauen hatten keine Antwort darauf.
Jamie spürte, wie die Feindseligkeit in dem engen Rover mit jedem Kilometer wuchs, den sie auf ihrem Weg zum Pavonis Mons zurücklegten.
Das Abendessen nahmen sie praktisch schweigend ein.
Selbst Mironow, der normalerweise immer ein freundliches Lächeln zur Schau trug, hatte nichts zu sagen und keine Scherze auf Lager. Patel hockte wie ein nervöser Vogel gegenüber von Jamie auf dem Rand seiner Bank und vermied es, ihn anzusehen.
Naguib versuchte, die Spannung zu mildern.
»Morgen erreichen wir endlich die Bruchzone«, sagte er und tunkte die letzten Reste seiner Mahlzeit mit einem dünnen Stück Pita-Brot auf.
»Stimmt«, griff Jamie die Worte des älteren Mann dankbar auf. »Dann bekommen wir die ersten sicheren Daten über das Alter der Lavaströme.«
Patel legte seine Gabel weg. »Wir haben nur drei kurze Tage Zeit für die Arbeit, für die ursprünglich eine ganze Woche eingeplant war.«
»Ich bin bereit, in diesen drei Tagen Doppelschichten einzulegen, Rava«, sagte Jamie. »Ich weiß, wie Ihnen…«
»Gar nichts wissen Sie!« fauchte der Hindu ihn an. »Sie sind doch nur von Ihrem verrückten Wunsch erfüllt, zu dem Canyon zurückzukehren und der Held dieser Expedition zu werden.«
»Der Held?«
»Wissen Sie, wie viele Jahre ich mit dem Studium der Tharsis-Vulkane verbracht habe? Nicht drei. Nicht fünf. Nicht zehn.« Patel zitterte vor Zorn. »Fünfzehn Jahre! Seit meiner Studentenzeit in Delhi! Fünfzehn Jahre lang habe ich über Fotos dieser Schildvulkane gehockt, habe die Fernmessungen der Raumsonden studiert. Und jetzt, wo ich endlich hier bin, haben Sie meine Zeit auf drei elende Tage zusammengestrichen.«
Jamie verspürte keinen Zorn. Er wußte genau, was Patel durchmachte. Er erinnerte sich, wie es ihm gegangen war, als Wosnesenski die Untersuchung des Canyons und der Felsenbauten wegen Konoyes Tod abgebrochen hatte.
»Sie haben recht, Rava«, sagte er. Seine Stimme war tief, ruhig und unnachgiebig. »Nur drei Tage. Ich werde tun, was ich kann, damit Sie während unseres Aufenthalts bei Pavonis soviel wie möglich in Erfahrung bringen können. Aber nach drei Tagen fahren wir zurück.«
»Damit Sie zum Canyon fahren können.«
»Ja.«
»Um nach Ihren absurden Felsenbauten zu suchen.«
»Nach Leben.«
»Pah! Unsinn! Totaler Unsinn.«
»Rava, wenn es wirklich nach mir ginge, würden wir ein Jahr oder länger hier auf dem Mars bleiben. Neue Teams würden zu uns kommen. Wir würden diesen Planeten auf einer rationalen, wissenschaftlichen Basis erforschen. Aber es geht nicht nach mir. Es geht nach keinem von uns.«