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»Es geht jedenfalls mehr nach Ihnen als nach mir«, murrte Patel.

Das gestand ihm Jamie mit einem kurzen Nicken zu.

»Ja, so ist es. Aber wenn Sie eines Tages zum Mars zurückkommen und sich ohne zeitliche Begrenzung mit der Erforschung dieser Vulkane beschäftigen wollen, dann müssen wir den Politikern etwas mitbringen, das sie nicht ignorieren können. Beweise für Leben können sie nicht ignorieren, Rava. Und wenn wir überhaupt irgendwo Leben finden können – oder auch nur Spuren erloschenen Lebens –, dann am ehesten auf dem Boden von Tithonium Chasma.«

»Es gibt noch andere Stellen«, sagte Naguib, »wo die Wahrscheinlichkeit ebenso groß wäre. Hellas zum Beispiel…«

»Das ist für diese Mission zu weit«, sagte Jamie. »Es liegt praktisch auf der anderen Seite des Planeten. Weiter als bis zu dem Canyon kommen wir diesmal nicht, und selbst das geht schon hart an die Grenze unserer Möglichkeiten.«

»Sie können total vernünftig sein, wenn Sie kriegen, was Sie wollen, nicht wahr?« sagte Patel.

»Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, Rava«, erwiderte Jamie. »Ich verstehe Ihre Gefühle. Ich würde genauso empfinden, wenn unsere Rollen vertauscht wären.«

»Ja, natürlich.«

Jamie schlüpfte hinter dem schmalen Tisch hervor und richtete sich zu seinen vollen Größe auf. Er blickte auf Patel herab.

»Wenn man meinen Ausflug zum Canyon zugunsten eines ausgedehnten Aufenthalts bei Ihren Vulkanen gestrichen hätte, wäre ich höllisch wütend. Aber ich würde es akzeptieren und mein Bestes tun, um Ihre Exkursion zu einem echten Erfolg zu machen.«

Patel wandte sich von ihm ab.

Mironow, dessen übliches Lächeln schon längst erloschen war, sagte leise: »Ich schlage vor, daß wir dieses Thema fallenlassen. Der Missionsplan steht fest. Wir verbringen die nächsten drei Tage am Pavonis Mons und kehren dann zur Basis zurück. Keine weiteren Diskussionen.«

Jamie nickte und ging nach vorn ins Cockpit. Naguib akzeptierte den Vorschlag mit einem leichten Achselzucken. Patel verzog das Gesicht und starrte Jamie nach. Seine dunklen Augen brannten.

Als Tony Reed einzuschlafen versuchte, hörte er den Nachtwind des Mars außerhalb der Kuppel seufzen. Das Geräusch beunruhigte ihn. Ein einziger kleiner Meteoriteneinschlag, ein so winziges Staubkörnchen, daß hinterher keine Spur mehr davon zu finden gewesen war, hätte sie beinahe alle umgebracht. Oh, sollen Wosnesenski und die anderen ruhig damit prahlen, daß alle Sicherheitssysteme funktioniert haben und wir nie wirklich in Gefahr waren. Du meine Güte! Wir hätten alle ersticken können. Nein, so lange hätten wir gar nicht gelebt. Unser Blut und die anderen Körperflüssigkeiten hätten gekocht. Wir wären geplatzt wie zu rasch erhitzte Würstchen, wie angestochene Ballons.

Er erschauerte unter seiner leichten Decke.

Ich bin kein Feigling. Tony hätte es beinahe laut ausgesprochen. Er sah seinen Vater über seinem Bett stehen und mit finsterer Miene auf ihn herabschauen. Ich bin kein Feigling. Es ist nicht feige, wenn man Angst vor einer echten Gefahr hat.

Wir stehen hier fortwährend am Rand des Todes. Jeder Atemzug, den wir tun, könnte unser letzter sein.

Er schloß die Augen ganz fest und versuchte mit aller Macht einzuschlafen. Ohne daß er es wollte, kam ihm die Erinnerung an seine Mutter: wie oft sie ihn in ihr Bett hatte krabbeln lassen, wenn ein Donnerschlag oder ein anderes Geräusch ihn erschreckt hatte.

Er wünschte, seine Mutter wäre jetzt hier, um ihn zu trösten.

Ilona hatte sich seit ihrer Landung auf dem Mars geweigert, mit ihm ins Bett zu gehen. Wenn er sich mit einem derartigen Ansinnen an Monique heranmachte, würde sie lächeln, ihm die Wange tätscheln und leise in sich hineinlachend weggehen. Da war er sicher.

Joanna. Wenn Joanna nur zu ihm kommen, ihn trösten würde. Hier auf dieser kalten, gefährlichen Welt brauchte er ihre Wärme. Er sehnte sich danach, geborgen in ihren Armen zu liegen.

DOSSIER

ANTHONY NORVILLE REED

Tony Reed war kaum vier Jahre alt. Er lag im Krankenhaus, kam sich sehr klein vor und hatte große Angst. Sein Vater kam geschäftig hereingeeilt; er war in einen schweren dunklen Überzieher und einen grau-rot gestreiften dicken Schal gehüllt, und seine Nase und die Wangen glühten rosarot von der Kälte des Winters, die die Krankenhausfenster mit dichtem Reif überzog.

»Und wie geht’s dir, mein Kleiner?« fragte sein Vater und setzte sich auf die Bettkante.

Tony konnte nicht sprechen. Er hatte keine Schmerzen, aber seine ganze Kehle fühlte sich eiskalt und taub an. Sein Vater war ein großer, stattlicher Mann mit einer lauten, durchdringenden Stimme, der stets eine gewisse Hektik um sich verbreitete. Er machte Tony nicht wenig Angst. Sie hatten sich nie nahegestanden. Tony, ein Einzelkind, hatte nie mit seinen Eltern zu Abend essen dürfen, wenn sein Vater zu Hause war. Nur wenn dieser nicht da war, durfte er mit seiner Mama an dem großen Tisch im Speisezimmer sitzen.

»Sie haben mir erzählt, du hättest die ganze Nacht geweint«, sagte sein Vater streng.

Tony konnte nicht antworten, aber ihm schossen die Tränen in die Augen. Sie hatten ihn in dem seltsamen Krankenzimmer allein gelassen, ohne Mama, sogar ohne seine Nanny.

»Jetzt hör mal zu, Antony«, sagte sein Vater. »Diese Leute hier im Krankenhaus sind meine Kollegen. Sie blicken zu mir auf und respektieren mich. Es wäre nicht gut, wenn sie dächten, mein Sohn sei ein Feigling, meinst du nicht auch?«

Tony nickte widerstrebend.

»Also, dann ist jetzt Schluß mit dem Geheule, hm? Kopf hoch! Sei ein braver Junge. Tu, was man dir sagt, und mach den Schwestern keine Schwierigkeiten. Okay?«

Tony nickte.

»Gut! Das ist die richtige Einstellung. Jetzt schau, was ich dir mitgebracht habe.« Sein Vater zog ein kleines Päckchen aus der Tasche seines Überziehers. Es war in glänzendes Goldpapier eingewickelt.

»Na los, mach’s auf.«

Tony zerrte vergeblich an dem Papier. Das Lächeln seines Vaters erlosch und wich einem genervten Stirnrunzeln. Er nahm das Päckchen in seine großen Hände mit den geschickten Fingern und entfernte rasch die Verpackung. Dann öffnete er die schmale Schachtel und zeigte Tony, was darin war.

Ein handtellergroßer Fernseher! Tony starrte ihn mit großen Augen an. Er hob ihn aus der kleinen Schachtel und drehte ihn mit zitternden Fingern hin und her, bis er den briefmarkengroßen Bildschirm und den roten Einschaltknopf fand. Er drückte auf den Knopf, und der Bildschirm erwachte sofort zum Leben.

Sein Vater zeigte ihm, wie man den Ohrstöpsel aus seinem nahezu unsichtbaren Gehäuse nahm. Tony schraubte ihn in sein linkes Ohr.

Das Bild auf dem Schirm zeigte den roten Planeten, Mars.

Die Stimme, die er vernahm, gehörte einem jungen brasilianischen Wissenschaftler namens Alberto Brumado, der gerade mit einem leicht verführerischen lateinamerikanischen Akzent sagte: »Eines Tages werden Menschen zum Mars fliegen und die Geheimnisse seiner roten Sandwüsten enthüllen…«

Seine Vater zauste Tony grob das Haar und ließ ihn dann allein, so daß er sich die winzigen Bilder vom Mars ansehen konnte.

Tony Eltern lebten unter dem gemeinsamen Dach ihres Hauses in Chelsea beide ihr eigenes Leben. Als Tony größer wurde, dämmerte ihm, daß sein Vater diverse Geliebte in anderen Teilen Londons hatte. Er wechselte sie etwa jedes Jahr, als würde er neue Kleidung für den Frühling kaufen. Aber er war nie lange ohne eine Geliebte.

Sein Vater schenkte Tony so gut wie überhaupt keine Aufmerksamkeit. Der große, schroffe Mann schien immer mit anderen Dingen beschäftigt oder auf dem Sprung irgendwohin zu sein. Und wenn er schon einmal Notiz von seinem Sohn nahm, dann so:

»Tennis? Das ist ein verdammt albernes Spiel. In deinem Alter war ich ein richtiger Fußballfan. Also, das hat Spaß gemacht!«