Und das, obwohl Tony im Gegensatz zu seinem stämmigen, kräftigen Vater schmächtig und gelenkig war.
»Tennis«, schäumte der alte Mann. »Ein Spiel für Ausländer und Weichlinge.«
Die Aufmerksamkeit seiner ergrauenden Mutter zu gewinnen, war leicht. Sie war eine freundliche, hellhäutige Frau mit der Anmut und Schönheit einer Porzellanpuppe. Sie wirkte zerbrechlich und angegriffen, aber Tony wußte, daß sie ihn vor seinem kalten, fordernden Vater beschützen konnte. Jeder, der sie kannte, liebte sie, und Tony am allermeisten. Um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, brauchte er nur so zu tun, als wäre er krank. Ein Husten oder ein Niesen, schon kam sie herbeigeflattert. Bevor er neun Jahre alt war, lernte Tony, wie man einen Fieberanfall vortäuschte: indem man das Thermometer unter den Warmwasserhahn hielt. Mit zunehmendem Alter keimte in ihm der Verdacht, daß seine Mutter all seine kleinen Tricks kannte und ihm vorbehaltlos verzieh. Die meiste Zeit über war er der Mann im Haus. Er hatte seine Mutter ganz für sich, außer wenn sein Vater daheim war.
Tony hatte sich insgeheim davor gefürchtet, das Elternhaus zu verlassen und an die Universität zu gehen, aber er fand rasch heraus, daß das Studentenleben ein ungetrübtes Vergnügen war. Es war lächerlich einfach, sich in den Mittelpunkt zu stellen und der unangefochtene Führer der Gruppe zu werden. Die anderen Studenten waren offenbar größtenteils trübe Tassen, die nur dazu taugten, die Leidtragenden seiner derben Scherze oder die Opfer seines grausamen scharfen Verstandes abzugeben. Je mehr er sie demütigte, desto mehr katzbuckelten sie vor ihm, suchten seine Gunst, verwandelten sich in Lakaien, um seinem Ärger zu entrinnen.
Es überraschte Tony einigermaßen, daß er bei Frauen so leichtes Spiel hatte. Sie hielten seine Tarnung irrtümlich für Selbstbewußtsein und seine absolute Egozentrik für Kultiviertheit. Diese erneute Bestätigung, daß Frauen noch leichter zu manipulieren waren als Männer, bereitete Tony große Freude.
Der einzige in seiner Klasse, der sich ihm nicht beugte, war der sture, phlegmatische Sohn eines Fabrikarbeiters aus Manchester, der das gesellschaftliche Leben des Campus ignorierte und sich mit der unbeirrbaren Intensität der Verzweiflung auf seine Bücher konzentrierte. Er wirkte so phantasielos und bedächtig wie ein Bauer, aber er fiel niemals auf einen von Tonys kleinen Streichen herein. Er entdeckte immer den Eimer Wasser, der auf der halb offenen Tür balancierte. Er ließ sich nie von den willfährigen jungen Damen herumkriegen, die Tony zu ihm schickte, damit sie ihn in Versuchung führten. Als er sah, daß sein Bett mit Bier getränkt war, drehte er geduldig und ohne zu murren die Matratze um, wechselte das Bettzeug und erschien am nächsten Morgen in der Klasse, als ob nichts geschehen wäre.
Tony machte seinen Abschluß als Zweitbester in seiner Klasse. Der Bauer schaffte es irgendwie, der Beste zu werden. Er machte Tony wütend. Trotzdem hatten sie in all den vier Collegejahren nie mehr Worte gewechselt als die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Nach dem Collegeabschluß sah Tony ihn nie wieder, und er war froh darüber.
»Nach Indien reisen?« Sein Vater stand kurz vor einem Schlaganfall. »Du wirst Medizin studieren, junger Mann! Du bist an meinem alten College angenommen worden, zum Teufel, und du gehst nirgendwo anders hin!«
»Aber ich glaube nicht, daß ich schon soweit bin…«
»Pah! Ich kenne dich, du Schlawiner. Hast Angst, daß du dich tatsächlich auf den Hosenboden setzen und studieren mußt. Angst davor, hart zu arbeiten. Wird dir gut tun, so ein bißchen harte Arbeit. Du gehst an die medizinische Fakultät, mein Junge. Und damit basta.«
Also ging Tony an die medizinische Fakultät. Sein Vater hatte recht gehabt; er war von banger Erwartung erfüllt. Sobald er jedoch dort war, stellte Tony fest, daß es noch lustiger zuging als an der Universität. Mogelbücher und Testkassetten gab es beinahe schon offiziell zu kaufen. Aber nach den ersten paar Monaten merkte Tony, daß er eine echte Faszination für das Studium des menschlichen Körpers entwickelte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß ihm das Lernen Spaß machte.
Er begann tatsächlich, hart zu arbeiten und zu studieren. Er wollte hervorragende Leistungen bringen.
Und immer war da der Mars – weit hinten in seinen Gedanken, knapp jenseits des Horizonts seines Daseins. Manchmal vergaß er ihn monatelang, ja sogar jahrelang, und dann war in einer Nachrichtensendung auf einmal wieder eine Rakete zu sehen, die in einem tosenden Meer aus Feuer und Dampf abhob, um ein Roboter-Landefahrzeug zu dem roten Planeten zu transportieren. Oder ein Gastredner sprach über die medizinischen Probleme in der Mikroschwerkraftumgebung einer Raumstation und erwähnte beiläufig, daß man bei einer Mission zum Mars mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert wäre. Oder der mittlerweile ergraute, aber immer noch vor jugendlichem Eifer sprühende Alberto Brumado moderierte eine Fernseh-Sondersendung über den Ursprung des Lebens auf der Erde und fragte sehnsüchtig, ob es möglich wäre, daß auch auf dem Mars Leben entstanden sei.
Sein Vater war schockiert und erzürnt, als Tony es ablehnte, die Familienpraxis zu übernehmen.
Mit rotem Gesicht und außer sich vor Zorn, beleibt von den Jahren und dem zu guten Leben, schrie sein Vater: »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, diese Praxis aufzubauen!
Du mußt sie weiterführen!«
Tony lächelte kühl und versuchte, die schreckliche Angst zu verbergen, die der Zorn seines Vaters stets in ihm auslöste.
»Vater, es hilft alles nichts. Ich werde nicht in deine geheiligten Fußstapfen treten.«
»Was ist denn los mit dir?« brüllte sein Vater. »Kannst kein Blut sehen? Ist es das? Operationen machen dir eine Heidenangst, hm? Verdammter flennender Feigling!«
Tony wich nicht zurück.
»Bei Gott, in deinem Alter habe ich Verwundete auf einem Lazarettschiff mitten in den Winterstürmen des Südatlantik zusammengeflickt.«
»Du hast uns oft von deinen ruhmreichen Heldentaten im Falklandkrieg erzählt, Vater.«
»Du bist ein Feigling! Ein verdammter zitternder, bibbernder kleiner Feigling!« Der alte Mann wandte sich an seine Frau.
»Du hast einen Feigling als Sohn großgezogen.«
Tony spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. »Hör auf, sie zu schikanieren!«
Sein Vater starrte ihn einen langen Augenblick an, dann stürmte er mit einem erbitterten Grunzen hinaus. Tony drehte sich zu seiner Mutter um, die stumm und geduldig dasaß. Sie hörten, wie sich die Haustür öffnete und dann ins Schloß fiel.
»Du glaubst doch nicht, daß ich ein Feigling bin, oder?« fragte Tony seine Mama.
»Natürlich nicht, mein Schatz.«
Zwei Tage später bewarb sich Tony für einen Posten im Raumfahrtprogramm der britischen Regierung. Innerhalb von vierzehn Tagen wurde er benachrichtigt, daß er vorläufig angenommen worden sei; er solle sich im Trainingszentrum melden, um dort seine Tests und Untersuchungen zu absolvieren.
Sein Vater war nicht zu Hause, als der Brief eintraf; es war niemand im Haus, nur Tony und seine Mutter.
»Sie brauchen Ärzte«, erklärte er ihr. Sein Stolz war immer noch verletzt. »Es kann sehr gut sein, daß ich ins Mars-Trainingsteam komme, wenn England in das Programm einsteigt.«
Er hatte erwartet, daß sie entsetzt in Tränen ausbrechen und ihn bitten würde, es sich noch einmal zu überlegen. Statt dessen küßte ihn seine Mutter lächelnd auf die Stirn und erklärte ihm, er solle tun, was immer er wolle.
Am Ende wurde Tony vom Marsprojekt angenommen, ein Fremder kaufte die lukrative Praxis, als sein Vater in den Ruhestand ging, und seine Mutter schleppte den alten Mann nach Nassau, wo er in ihrem ersten Jahr in der Sonne einen Schlaganfall erlitt und zu einem hilflosen Krüppel wurde, der vollkommen auf die liebevolle Fürsorge seiner lange vernachlässigten Frau angewiesen war.