Tony genoß es, beim Marsprojekt dabeizusein. Die meisten anderen Trainingsteilnehmer waren entweder Astronauten oder Wissenschaftler, langweilige Techniker oder Forscher mit so eng umrissenen Spezialgebieten, daß sie so gut wie nichts von der größeren Welt der schönen Künste und der Gesellschaft wußten. Tony amüsierte sich bestens. Er war stets das kultivierte Zentrum des Interesses, und alle fühlten sich zu ihm hingezogen. Während andere vor Angst, beim Auswahlprozeß durchzufallen, fast hysterisch wurden, zweifelte Tony nie daran, daß er ins Marsteam kommen würde. Falls ihm der Gedanke angst machte, Millionen von Kilometern durch den Raum zu einer leeren, höchst ungastlichen Welt zu reisen, so behielt er solche unguten Gefühle für sich. Nur in seinen Träumen suchten ihn derartige Schrecknisse heim, und zwar immer in Gestalt seines Vaters, der wie ein furchtbarer, nimmersatter Oger über ihm aufragte, während seine Mutter hilflos schluchzte.
Während seiner wachen Stunden unternahm Tony nur einen Schritt, den er später für einen Fehler hielt. Er half Joanna, Hoffmann loszuwerden und den Navajo ins Marsteam zu holen. Ein Schnitzer, dachte Tony im Rückblick. Der Navajo ist ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Selbst Joanna interessiert sich für ihn. Joanna ganz besonders.
SOL 24
MITTAG
Leise vor sich hinsummend, überprüfte Aleksander Mironow Jamies Tornistergerät. Die Luftschleuse des Rovers war voll, obwohl nur sie beide sich darin befanden: Mironow in seinem feuerwehrroten Anzug, Jamie in seinem himmelblauen, samt grauem Ersatzhelm für das Original mit der Meteoritenschramme.
Mironows Visier war hochgeklappt, und als der Russe in sein Blickfeld zurückgestapft kam, sah Jamie, daß er lächelte.
Mironows Gesicht wirkte klobig, fast zusammengepreßt in seinem Helm, als steckte es in einem Behälter, der eine halbe Nummer zu klein war. Es war ein breitwangiges, leicht gerötetes Gesicht mit einer Stupsnase und einigen Sommersprossen, blaßblauen Augen und so blonden Brauen, daß sie kaum zu sehen waren.
»Handschuhe?« fragte Mironow.
»Hier an meinem Gürtel, Alex.« Jamie zog sie an. Die Handschuhe waren das fortschrittlichste Stück Technik der gesamten Missionsausrüstung: so dünn und biegsam, daß der Träger die Finger mühelos darin bewegen konnte und ein Gefühl für alles behielt, was er anfaßte, aber auch so zäh, daß sie die Hände vor dem Beinahe-Vakuum der Marsatmosphäre schützten.
»Visier runter«, befahl Mironow. Erst nachdem sie beide ihre Helme verriegelt hatten, drehte er sich zu den Pumpen um und startete sie.
»Sie sehen müde aus«, sagte der Kosmonaut über Anzugfunk.
Überrascht sagte Jamie zu dem goldgetönten Visier: »Mir geht es gut.«
»Sie waren gestern vier Stunden draußen, und vergangene Nacht sind Sie sehr lange aufgeblieben. Sie waren den ganzen Vormittag draußen, und jetzt gehen Sie schon wieder hinaus.«
Die Pumpen hörten auf zu arbeiten. Das Anzeigelämpchen wurde rot. Mironow stieß die Luke auf.
»Wir haben hier nur drei Tage«, erwiderte Jamie, als sie durch die Luke traten und die kurze Leiter zu dem unebenen, geschwärzten Boden hinunterstiegen.
»Sie fühlen sich schuldig wegen Patel.«
Jamie vergaß, wo er sich befand, und versuchte, im Anzug die Achseln zu zucken. Das brachte ihm nur eine frische Reizung in der Achselhöhle ein, wo der Anzug scheuerte.
»Sie dürfen sich nicht so schinden«, fuhr Mironow fort.
»Wenn man müde ist, macht man Fehler. Fehler können tödlich sein.«
»Mir passiert schon nichts. Die anderen strengen sich genauso an«, sagte Jamie.
»Denen habe ich den gleichen Vortrag gehalten«, sagte der Russe. Seine Stimme klang eher enttäuscht als betrübt.
»Und?« fragte Jamie.
Mironow zeigte mit einem behandschuhten Finger zu den buttergelben und dunkelgrünen Gestalten von Patel und Naguib. »Sie haben ebensowenig auf mich gehört, wie Sie es jetzt tun.«
Patel und Naguib schlugen bereits Proben von dem dunklen Basaltstein ab, der sich vor ihnen ausdehnte, so weit das Auge reichte. Alte Lavaausflüsse, wie Jamie wußte. Pavonis Mons war immer wieder ausgebrochen, glühend heiße Magma war in alle Richtungen geströmt. Wie lange war das her? Die Proben, die sie nahmen, würden ihnen die Antwort darauf geben.
Sie hatten beschlossen, diese drei kostbaren Tage am Fuß des Vulkanschildes zu verbringen und so viele Proben an so vielen verschiedenen Orten wie möglich zu nehmen, und waren übereingekommen, mit der Analyse auf der Rückfahrt zur Basis zu beginnen.
Dennoch konnte keiner der drei Wissenschaftler der Versuchung widerstehen, die gesammelten Proben zu untersuchen.
Vergangene Nacht waren sie stundenlang aufgeblieben, während Mironow sie wie ein machtloser Betreuer im Ferienlager an den Missionsplan erinnert hatte, und hatten ein Dutzend Proben durch den transportablen GC/MS im Labormodul des Rovers laufen lassen.
Das Massenspektrometer verriet ihnen, daß ihre Proben aus eisenreichem Basalt bestanden und nicht mehr als fünfhundert Millionen Jahre alt waren, nach dem Mengenverhältnis von Kalium und Argon zu urteilen.
»Aber das Argon hätte ausgasen können«, warnte Jamie.
»Ein gewisser Prozentsatz ist vielleicht in die Atmosphäre entwichen.«
»Gut möglich, daß ein großer Teil davon nicht mehr da ist«, stimmte Naguib ihm zu.
»Das heißt, die Proben könnten viel älter sein«, meinte Jamie.
Patel, der Jamie immer noch nicht in die Augen schaute, sagte zu dem Ägypter: »In der Basis, wo wir die Proben im Atomreaktor bestrahlen können, werden wir aussagekräftigere Tests durchführen.«
Naguib nickte. »Ja. Wenn die Ferngreiferanlage funktioniert.
Sie war kaputt…«
»Pete sagt, er repariert sie, bis wir zurückkommen«, sagte Jamie.
»Astronaut Connors!« schnaubte Patel beinahe. »Er fliegt die ganze Zeit das RPV, statt sich um seine Wartungsaufgaben zu kümmern.«
»Pete wird die Steueranlage repariert haben, wenn wir zurückkommen«, beharrte Jamie.
Schließlich klappten sie ihre Liegen herunter, um sich schlafenzulegen: Patel und Naguib oben, Mironow und Jamie unten. Jamie schlief rasch ein, wurde dann allerdings von einem wimmernden, beinahe schluchzenden Laut von oben wieder geweckt. Einer von ihnen hat einen Alptraum, erkannte er. Er drehte sich mit dem Gesicht zur gekrümmten Wand des Rovers und schlief wieder ein. Sein letzter bewußter Gedanke war, daß sich die Metallhülle des Fahrzeugs kalt anfühlte; draußen wartete die eisige Marsnacht, nur ein paar Zentimeter entfernt.
Beim Frühstück kamen sie überein, daß es taktisch am klügsten wäre, wenn sie sich an der Linie aus Spalten und Schlundlöchern entlang vorarbeiteten, die an einer Flanke des massiven Vulkans aufwärts verlief. Sie würden den sanft ansteigenden Hang des Schildes so weit hinaufgehen, wie sie konnten, und Mironow würde mit dem Rover hinter ihnen herfahren, damit sie die in den Missionsvorschriften festgelegte sichere Rückkehrdistanz nicht überschritten.
Diese Vulkane sitzen alle drei genau auf dieser großen Verwerfungslinie, sagte sich Jamie, während er angestrengt auf den harten schwarzen Basalt einhackte. Er schaute zum Rover zurück und sah, daß Mironow eine weitere Bake in den Boden pflanzte. Es war keine leichte Arbeit; dies war echtes Felsgestein, nicht der verdichtete Sand, den sie in der Umgebung ihrer Kuppelbasis vorgefunden hatten. Die dünne, rötliche Staubschicht, die das Gestein bedeckte, ließ sich leicht wegwischen. Jamie fragte sich, weshalb der Wind sie nicht ganz abtrug.
Im Innern seines Raumanzugs spürte Jamie keinen Wind, und am lachsfarbenen Himmel waren keine Wolken, an denen man Luftbewegungen ablesen konnte. Doch die meteorologischen Meßinstrumente ihrer Baken zeigten an, daß eine ziemlich stetige Brise mit einer Windgeschwindigkeit von über sechzig Stundenkilometern den langen, allmählich ansteigenden Hang zum fernen Gipfel des Vulkans hinauf wehte. Bei Nacht kehrte sich die Windrichtung um, und die Windgeschwindigkeit sank auf etwas mehr als dreißig Stundenkilometer.