Sechzig Stundenkilometer wären auf der Erde eine steife Brise, wie Jamie wußte. Aber in der dünnen Marsluft hatte der Wind keine Kraft; sie reichte nicht einmal, um die letzte Sandschicht von den Felsen zu blasen.
Jamie stützte die Hände auf die Knie und ließ sich eine Weile vom Anzuggebläse abkühlen. Durch die harte Arbeit hatte sich sein Visier beschlagen. Er wartete ab und ließ den Blick über die kahle Steinwüste schweifen, die sich überall um sie herum erstreckte. Toter Fels, so zerklüftet und nackt wie die schlimmsten Badlands, die er in New Mexico je gesehen hatte.
Öde und von Meteoritenkratern zernarbt, die manchmal so groß waren wie ein Football-Feld, meistens aber nicht mehr als Dellen, wie sie ein Hammer in die Motorhaube eines Autos schlagen würde. In der erstarrten Lava waren Risse – Schlote und Spalten, die sich von einem Kraterloch zum nächsten schlängelten. Der Boden stieg fast unmerklich zu der hohen Caldera des Vulkans an, die so weit entfernt war, daß sie sich ein gutes Stück hinter dem Horizont befand.
Seltsamerweise lagen nicht allzu viele Gesteinsbrocken herum. Der geschmolzene Basalt mußte sie hangabwärts geschoben haben. Jamie stellte sich die schwarze Steinfläche, auf der er stand, in einem früheren Stadium vor: ein breiter, wogender Strom glutheißer Lava, die aus diesen Schloten quoll, träge zur Ebene hinabfloß und dabei die Steine in ihrem Weg schmolz oder plattwalzte.
Längs dieser Verwerfungslinie muß Wärme aus dem Innern heraufkommen, folgerte Jamie. Geschmolzene Magma, die hin und wieder austritt, diese gewaltigen Kegel schafft, sich dann aus ihnen ergießt und die Schilde formt. Aber wie steht es dann mit Olympus Mons, rund fünfzehnhundert Kilometer nordwestlich? Er liegt allem Anschein nach nicht auf einer Verwerfung. Aber er ist wahrscheinlich jünger als diese drei Schönheiten. Könnte es in der Tiefe eine heiße Stelle geben, die Pavonis und seine beiden Gefährten geschaffen hat, dann nach Nordwesten gewandert ist und dort Olympus hervorgebracht hat?
Jamie merkte, daß ihm der Rücken wehtat, weil er sich in dem schwerfälligen Anzug so unbeholfen vornüber beugte. Er richtete sich auf und fragte sich, ob es auf dem Mars eine Plattentektonik gab, wie auf der Erde. Wahrscheinlich nicht; der Planet ist so klein, daß sein Kern unmöglich genug Wärmeenergie besitzen kann, um ganze Kontinente aus Mantelgestein zu verschieben. Aber für die Erschaffung dieser drei Vulkane hat die Wärmeenergie ausgereicht. Wo ist sie hergekommen? Fließt sie immer noch?
Er schaute hangaufwärts. Sein Blick folgte der zerklüfteten, dunklen Landschaft, die zum rosafarbenen Himmel emporstieg. Wann hast du zum letzten Mal gerülpst, Pavonis, mein Freund? Bist du vollständig erkaltet, oder wirst du eines Tages wieder Lava über diesen Boden speien?
Auf einmal schreckte ihn eine abrupte Bewegung im Augenwinkel auf. Als er das Gesicht dorthin gedreht hatte, war nichts mehr zu sehen. Ein Schatten, der über den Boden gehuscht war? Wie der eines Vogels, der über sie hinwegflog…?
Jamie schaute nach oben und sah den silbrigen Punkt des Schwebegleiters hoch oben in der Sonne glitzern. Sein Herz klopfte von dem plötzlichen Adrenalinstoß. Er kam sich töricht vor. Da oben kreisen keine marsianischen Falken; es ist bloß Pete Connors, der die Pavonis-Caldera fotografisch vermessen will. Hoffentlich macht es Patel glücklich.
»Stimm-Check.« Mironows jungenhafter Tenor in seinem Kopfhörer ließ Jamie zusammenfahren. Er blickte sich um und sah, daß sein Schatten lang über dem Boden lag. Die Sonne näherte sich dem Horizont.
»Patel hier.«
Der Rover parkte rund hundert Meter weiter unten am Hang zwischen einem Meteoritenkrater, der doppelt so groß war wie er, und einer zickzackförmigen Spalte, die einmal ein Lavaschlot gewesen sein mochte. Du hast recht gehabt, Rava, sagte Jamie im stillen. Diese Vulkane haben uns so viel zu erzählen, und wir werden nicht lange genug hier sein, um ihre Geschichte auch nur ansatzweise zu verstehen.
»Waterman, alles in Ordnung«, sagte Jamie. Die Stimm-Checks gehörten zur normalen Sicherheitsprozedur, wenn die Wissenschaftler außerhalb des Blickfelds des für das Team verantwortlichen Astronauten oder Kosmonauten waren. In diesem zerklüfteten Gelände konnte Mironow seine drei herumwandernden Teamkameraden unmöglich alle im Auge behalten.
Ein langes Schweigen.
»Naguib?« In Jamies Kopfhörer klang Mironows Stimme scharf. »Doktor al-Naguib, Stimm-Check bitte.«
Keine Antwort.
»Doktor al-Naguib?«
»Er war bei der Spalte da drüben.« Patel zeigte weiter hangaufwärts. »Vielleicht blockiert dieses Gelände die Funkwellen.«
Jamie hörte ein leises, gutturales Gemurmel, als Mironow auf Russisch fluchte. Er folgte dem ausgestreckten Arm von Pateis gelbem Anzug mit dem Blick und rief in sein Helmmikrofon:
»Schauen wir mal nach, Rava. Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten.«
»Nein, ich glaube nicht…«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Es ist meine Aufgabe, ihn zu suchen«, rief Mironow. »Ich will nicht, daß noch einer von Ihnen verschwindet.«
Aber Jamie marschierte bereits so schnell hangaufwärts, wie es in dem harten Anzug ging. Die Steigung war gering, und seine Stiefel gaben ihm guten Halt, aber der zerklüftete Boden war heimtückisch.
»Rava«, rief er, »wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
Der buttergelbe Anzug hatte sich nicht bewegt. »Rechts von Ihnen«, antwortete Pateis Stimme. »Vielleicht zwanzig oder dreißig Meter weiter oben.«
Jamie umrundete eine konische Vertiefung, einen Meteoriteneinschlag, der im Vergleich zu den verwitterteren Kratern, die den Boden sprenkelten, geradezu funkelnagelneu wirkte.
Er sah einen Riß, der sich durch das schwarze Gestein schlängelte. Er war so breit, daß man durchaus hineinfallen konnte.
Wie tief?
Sehr tief, sah er, als er sich unbeholfen vorbeugte und hineinschaute. So schwarz und tief wie die Hölle. Er schaltete seine Helmlampe ein, aber der Strahl fiel nur matt in den senkrechten Spalt.
»Doktor Naguib?« rief er.
Keine Antwort. Wenn er in dieser Spalte steckt, müßte er mein Funksignal hören können, sagte sich Jamie. Falls er bei Bewußtsein ist. Und am Leben.
»Bleiben Sie stehen!« rief Mironow. »Ich komme. Ich habe die Peilantenne dabei.«
Erst als Jamie sich ganz umdrehte, sah er den Russen in seinem Feuerwehranzug mit großen Sätzen auf sich zukommen.
Er hatte einen schwarzen Kasten von der Größe eines tragbaren Fernsehers in einer behandschuhten Hand. Patel stand immer noch wie erstarrt an derselben Stelle; er hatte keine andere Bewegung gemacht, als den Arm sinken zu lassen.
Die Peilantenne wird uns nicht viel nützen, dachte Jamie.
Wenn weder Naguib uns hören kann noch wir ihn, dann fängt auch die Peilantenne kein Funksignal auf.
»Er muß auf der anderen Seite dieser Spalte sein«, rief Jamie Mironow zu, wobei er unbewußt die Stimme hob, als müßte er schreien, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken.
Bevor Mironow etwas erwidern konnte, trat Jamie ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang über die Spalte. Bei der geringen Schwerkraft war das leicht, sogar mit dem unhandlichen Anzug, der ihn belastete.
»Warten Sie!« brüllte Mironow. »Ich befehle Ihnen zu warten!«
Jamie ging noch ein paar Schritte weiter und ließ seinen Blick so weit hin- und herschweifen, wie es der Helm erlaubte. Er ist irgendwo hier oben. Er muß hier sein. Irgendwo, wo wir ihn nicht sehen können. Wo wir keinen Funkkontakt mit ihm aufnehmen können. Das bedeutet…