»Die hast du aber nicht. Niemand hat sie.« Ilona atmete leicht ein. Es war beinahe ein Seufzer. »Nicht mal ich selbst.«
Und dann war da Tony. Etwas an dem englischen Arzt beunruhigte Jamie. Im Lauf der Wochen war Tony – wie sollte man es beschreiben? – mürrisch geworden. Verschlossen. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, dachte Jamie. Tony sah aus wie eh und je: gepflegt, attraktiv und elegant, sogar in den Projektoveralls. Aber er benimmt sich nicht mehr so wie zur Zeit der Landung. Er ist stiller, er redet nicht mehr so viel, und wenn er es tut, dann hat er nicht mehr so viel Pep wie früher. Irgend etwas stimmt nicht. Tony ist distanziert. Kalt. Beinahe feindselig.
Hat Ilona wieder auf ihm herumgehackt, weil er die Kuppel nie verläßt? Dann schüttelte er den Kopf. Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht bilde ich es mir nur ein. Ich bin so mit den Vorbereitungen für diese Exkursion beschäftigt, daß ich nicht mehr viel Zeit für Tony übrig gehabt habe. Kann auch sein, daß es ihm nicht gutgeht.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Jamie blickte auf und sah Wosnesenski vor sich stehen, ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht. Mikhail rasierte sich jeden Morgen, aber sein dunkler Bart verschwand niemals ganz.
»Danke. Ich glaube, ich komme schon klar.«
Jamie war in seiner Kabine bereits in den von Schläuchen durchzogenen Unteranzug geschlüpft. Jetzt zwängte er die Beine in die untere Hälfte seines Raumanzugs.
»Warum gehen Sie hinaus?« Wosnesenski begann, seinen Overall abzulegen. Das ursprüngliche Korallenrot war mittlerweile ziemlich ausgeblichen.
»Ich war seit über einer Woche nicht mehr draußen«, sagte Jamie. »Diese ganze Exkursionsplanung hat einen Apparatschik aus mir gemacht.«
»Das ist nun mal der Preis für die Führungsposition.« Wosnesenski grinste. Es sollte offensichtlich ein Scherz sein. Er stand im Slip da und griff in seinen Spind, um den Thermo-Unteranzug herauszuholen.
»Tja«, grunzte Jamie, während er sich die Stiefel anzog, »dieser Führer hier wird seine freie Stunde heute morgen damit verbringen, einen Spaziergang um die Kuppel zu machen und die Landschaft zu bewundern. Und nachzudenken.«
Der alte mürrische Ausdruck trat wieder in Wosnesenskis Augen. »Sie wissen, daß Sie nicht allein hinausgehen dürfen.«
»Es ist doch nur ein Spaziergang um die Kuppel, Mikhail.«
»Es ist nicht erlaubt.«
»Ich brauche ein bißchen Zeit für mich selbst.«
»Hier führe immer noch ich das Kommando«, sagte der Russe und knöpfte seinen Thermo-Unteranzug vorn zu. Er sah aus wie ein Hydrant, der in zu lange gekochte Spaghetti gewickelt war.
Jamie, der immer noch auf der Bank saß, lächelte zu ihm hinauf. »Ja, ich weiß, daß Sie die Leitung haben, Mikhail. Und Sie haben recht, in den Missionsvorschriften steht, daß niemand allein draußen sein darf. Wären Sie wohl so freundlich, mich zu begleiten?«
Der Russe grinste breit. »Ich? Der Kommandant der Gruppe?
Erwarten Sie wirklich, daß ein Mann, der so viel zu tun hat wie ich, alles stehen und liegen läßt, nur um mit Ihnen einen Spaziergang zu machen?«
»Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie es wirklich täten.«
Wosnesenski lehnte sich mit dem Hintern an den Spind, um das steife Metallunterteil seines Druckanzugs anzuziehen, und flachste: »Der Kommandant der Gruppe ist viel zu wichtig, als daß er auf die Laune eines Untergebenen hin draußen in der Wüste herumspazieren könnte. Viel zu wichtig.«
Jamie stand auf und trat an das Gestell, an dem das Oberteil seines himmelblauen Anzugs hing, leer und mit schlaffen Armen, wie eine Rüstung ohne Kopf und Beine.
»Als Ihr Freund«, sagte Wosnesenski und hob einen Wurstfinger in die Luft, »gehe ich allerdings gern mit Ihnen hinaus.«
Jamie zwängte sich in das Oberteil, streckte den Kopf durch den Halsring und grinste den Russen an. »Als Ihr Freund danke ich Ihnen dafür ganz herzlich.«
»Aber nur für die eine Stunde«, sagte Wosnesenski ernster.
»Wir haben alle einen arbeitsreichen Vormittag vor uns.«
»Stimmt.«
Ein paar Minuten später steckten sie in ihren luftdicht verschlossenen Anzügen. Sie überprüften gegenseitig ihre Tornistergeräte, sagten Mironow Bescheid, der an diesem Morgen an der Überwachungskonsole saß, und betraten die Luftschleuse.
Erst als sie auf den staubigen roten Boden hinaustraten und Jamie wieder einmal zum rosafarbenen Marshimmel hinaufblickte, erinnerte er sich, daß die Farbe seines Anzugs nicht der Farbe des hiesigen Himmels entsprach; der nächste blaue Himmel war über hundertfünfzig Millionen Kilometer von seinem jetzigen Standort entfernt.
Während Wosnesenski ihm mit ein paar Schritten Abstand folgte, ging Jamie langsam um die gekrümmte Flanke der Kuppel herum zu der Seite hinüber, wo er die Landefahrzeuge und den Wirrwarr von Geräten und Meßinstrumenten um sie herum nicht sehen konnte. Das war sein Lieblingspanorama, leere Wüste bis zum beunruhigend nahen Horizont und eine runzlige rote Kette von Felsklippen in der Ferne.
Er zwinkerte einmal und sah New Mexico vor sich, mit struppigen Dornbüschen und stoppeligen Grasflecken zwischen dem Sand und den Steinen. Ein weiteres Zwinkern, und es war wieder der Mars, kahl und kalt.
Warst du einmal lebendig? fragte Jamie die Welt, auf der er stand. Werden wir die Geister deiner Toten in dem Canyon finden? Sind wir die ersten, die den Abgrund zwischen uns überquert haben, oder sind deine Vorväter schon vor einer Ewigkeit zu unserer Welt gelangt? Kehre ich nach Hause zurück?
Der leise pfeifende Wind gab Jamie keine Antwort. Die Geister des Mars, sofern es sie gab, behielten ihre Geheimnisse für sich.
Jamie stieß einen tiefen Seufzer aus. Also gut. Ich muß hinausgehen und euch suchen. Ich muß mit eigenen Augen sehen, was die Wahrheit ist.
Schließlich drehte er sich um und lächelte Wosnesenski in seinem feuerwehrroten Anzug an, obwohl er wußte, daß der Russe sein Gesicht durch das getönte Visier nicht sehen konnte.
»In Ordnung, Mikhail. Gehen wir wieder hinein.«
»Das war alles, was Sie wollten?«
»Sie hatten recht. Wir haben viel zu tun. Wir sollten uns jetzt lieber an die Arbeit machen.«
Jamie spürte, daß der Russe in seinem Anzug die Achseln zu zucken versuchte. Als sie zur Luftschleuse zurückstapften, kramte Jamie in seinem Gedächtnis nach den Einzelheiten des Traums. Etwas mit der Schule, etwas, das ihn beunruhigte. Er schob es auf seine Nervosität und vergaß es.
Tony Reed hatte ebenfalls geträumt.
Die englische Arzt war von seiner Schlafkabine aus direkt in sein Krankenrevier gegangen, war mit nichts weiter als einem Paar Wollsocken und einem ausgefransten königsblauen Frotteebademantel mit dem Aufnäher vom Club seines Vaters auf der linken Brustseite über den harten Kunststoffboden getappt.
Reed konnte sich nicht an seinen Traum erinnern, nur daran, daß er in kalten Schweiß gebadet aufgewacht war, dankbar dafür, daß die Visionen, die ihn im Schlaf gequält hatten, in dem Moment, als er die Augen aufgemacht hatte, wie das Bild auf einer Fernsehröhre erloschen waren. Er schloß sorgfältig die Falttür des Krankenreviers und ging daran, sich seinen morgendlichen Muntermacher zuzubereiten.
»Ich mag Kaffee, ich mag Tee«, sang er tonlos und nahezu lautlos vor sich hin. »Aber dich mag ich am meisten.«
Der perfekte Morgentrunk. Genug Amphetamin, um munter und hellwach in den Tag zu starten, aber nicht so viel, daß es schädlich ist. Oder daß man es mir anmerkt. Eine Prise von diesem und eine Prise von jenem. Genau das Richtige, um einen weiteren Tag auf dem Mars zu beginnen. Dem verfluchten Mars. Dem gefährlichen Mars. Dem langweiligen, öden, toten Mars.
Reed hielt den kleinen Plastikbecher ins Licht, vergewisserte sich, daß die Flüssigkeit darin genau bis zu dem vorgesehenen Meßstrich reichte, und schluckte sie dann genüßlich hinunter.