»Hmm? Ja, sicher. Es geht mir gut.«
»Ich hatte den Eindruck, daß du mit den Gedanken ganz woanders warst.«
»Ich habe nachgedacht.«
Sie lächelte. »Kann nichts schaden, wenn ein Wissenschaftler das hin und wieder mal tut.«
»Und du?« fragte er. »Wie geht es dir?«
»Ach… ich bin müde. Und ich mache mir Sorgen, glaube ich.«
»Sorgen? Weswegen?«
Sie setzte sich auf den Rand der ausgeklappten Liege neben Jamie und sagte mit ihrer Flüsterstimme: »Angenommen, wir kommen den ganzen weiten Weg hierher und gelangen auf den Grund des Canyons – und dort ist nichts? Kein Leben.«
Jamie zuckte die Achseln. »Deshalb kommen wir ja den ganzen weiten Weg hierher: um herauszufinden, ob es dort unten Leben gibt oder nicht.«
»Aber wenn wir nun keines finden?« In ihren Augen war etwas, das Jamie nicht ergründen konnte; es war nicht nur Angst, und es ging tiefer als das bloße Interesse einer Wissenschaftlerin am Ergebnis einer Untersuchung.
»Wenn da unten kein Leben zu finden ist«, antwortete Jamie langsam, »dann ist das an sich schon eine wichtige Entdeckung. Wir werden eben woanders suchen müssen.«
Joanna schüttelte den Kopf. »Wenn es unter den Nebelschleiern kein Leben gibt, was können wir dann vom Rest dieser eiskalten Wüste erwarten? Dann haben wir versagt, Jamie. Es wird keine weitere Expedition zum Mars geben.«
»He, laß dich nicht so runterziehen«, sagte er, streckte die Hand aus und faßte sie sanft an der Schulter. »Es ist doch nicht deine Schuld, wenn es auf dem Mars kein Leben gibt.«
»Aber dann sind wir umsonst von so weit her gekommen.«
»Nein. Nicht umsonst. Wir sind hier, um zu lernen, was der Mars uns zu lehren hat. Darum geht es bei der Wissenschaft, Joanna. Sie ist kein Spiel, bei dem man gewinnt oder verliert.
Es geht darum, Wissen zu erwerben. Die negativen Ergebnisse sind genauso wichtig wie die positiven. Vielleicht sogar noch wichtiger.«
Ihr Gesichtsausdruck war beinahe elend.
»Wir sind hier, um die Wahrheit zu suchen«, sagte Jamie leise und eindringlich, »wir sollten uns nicht vor dem fürchten, was wir finden könnten, was es auch sein mag.«
Joanna antwortete nicht.
»Es gibt nichts, wovor wir Angst haben müßten«, wiederholte er. »Ganz gleich, was wir finden – oder nicht finden.«
Sie wandte sich ab, stand von der halb ausgeklappten Liege auf und hastete zum Waschraum. Jamie sah, daß sie weinte.
Sie tat ihm leid. Und er war verwirrt.
Als er in dem abgedunkelten Rover auf dem Rücken lag und dem leisen Marswind draußen vor der metallenen Hülle lauschte, überlegte Jamie, weshalb Joanna sich solche Sorgen darüber machte, was sie in dem Canyon finden würden.
Sie ist Biologin, sagte er sich. Wenn sie Leben auf dem Mars findet, wird ihr Name in die Geschichtsbücher eingehen. Aber wenn nicht, wird sie sich immer fragen, ob sie es übersehen hat. Die ganze Welt wird sich fragen, ob es hier nicht doch Leben gibt und ob sie bloß nicht die richtigen Tests gemacht hat oder nicht an den richtigen Stellen gewesen ist.
Ich habe sie gezwungen, hierher zum Canyon zu kommen.
Vielleicht hätten wir versuchen sollen, den Rand der Polarkappe zu erreichen. Dort gibt es jede Menge Wasserdampf, soviel steht fest. Aber wir sind viel zu weit von der Kappe entfernt gelandet. Das wird bis zu einer zweiten Mission warten müssen.
Connors schnarchte fünfzehn Zentimeter entfernt auf seiner Liege. Nur ein paar mehr Zentimeter über ihm war Joannas Liege. Jamie spürte, daß sie wach war, angespannt und besorgt und voller Angst.
Angst.
Jamie schloß im Dunkeln die Augen und rief sich seine erste Begegnung mit Joanna Brumado in Erinnerung. Damals hatte sie auch Angst gehabt.
Alle Trainingsteilnehmer hatten einen Überlebenstest auf dem Meer absolvieren müssen. »Es besteht ein kleines, aber begrenztes Risiko, daß Ihr Rückflug zur Erde mit einer Notlandung auf dem Meer enden wird«, sagte der grauhaarige alte Stabsbootsmann, den sie sich von einem Aquanautenteam der U.S. Navy ausgeliehen hatten. Obwohl ihr Rückflug dem Plan zufolge bei der Raumstation in der erdnahen Umlaufbahn enden sollte, konnte das Kommandomodul ihres Raumschiffes abgetrennt werden, falls irgend etwas schiefging, und wie die alte Apollokapsel in die Erdatmosphäre eintreten und im Meer runtergehen.
»Möglicherweise müssen Sie mehrere Stunden oder sogar mehrere Tage in einem Gummiboot sitzen«, hatte der Stabsbootsmann fröhlich erklärt. »Ich habe die Aufgabe, Sie auf diesen Fall vorzubereiten.«
Deshalb verbrachten sie drei Tage in einem offenen Gummiboot etliche Kilometer vor der Küste der Hauptinsel von Hawaii. Acht Männer und Frauen, darunter der lederhäutige Stabsbootsmann. Joanna war eine von ihnen gewesen.
Jamie erinnerte sich, daß sie die ganze Zeit seekrank gewesen war und ständig Angst gehabt hatte. Ihr Gesicht war weiß gewesen, und sie hatten die Fäuste so fest geballt, daß ihre Fingernägel sich tief in die Handteller gruben.
Er war die ersten beiden Stunden ebenfalls seekrank gewesen, während sie unablässig auf den dunklen, sich hoch auftürmenden Wogen tanzten. Im Wellental konnten sie nichts als tiefblaues Wasser und den blaßblauen Himmel sehen. Wenn sie auf einen Kamm gehoben wurden, stellte sich der Horizont schief und schwankte derart, daß ihnen übel wurde.
Jeder von ihnen trug eine dicke, aufgeblasene Schwimmweste, die in der Sonne zu heiß war, nachts jedoch nicht wärmte.
Der Stabsbootsmann erlaubte ihnen nicht, die Ärmel und Hosenbeine ihrer Overalls hochzukrempeln. Außerdem mußten sie Hüte mit weichen Krempen tragen. »Sonnenstich«, hatte der Stabsbootsmann wissend gesagt. Niemand hatte ihm widersprochen.
»War ja wirklich das Letzte, wenn man bis zum Mars und zurück fliegt und dann bei der Rückkehr ertrinkt«, sagte eine der Trainingsteilnehmerinnen, eine grinsende, sonnengebräunte blonde Kalifornierin mit dem Körperbau einer Gewichtheberin.
»Im Augenblick hätte ich nichts dagegen, zu ertrinken«, sagte eine andere Frau. »Es wäre eine Erlösung.«
Der Stabsbootsmann befahl ihnen allen, über den wulstigen Rand des Gummiboots zu rutschen und jeweils eine Stunde lang im Wasser zu schwimmen. »Sie gehen schon nicht unter, jedenfalls nicht, wenn Ihre Schwimmausrüstung aufgeblasen ist. Das einzige, worüber Sie sich Sorgen machen müssen, sind Haie.«
Jamie verbrachte seine ganze Stunde im Wasser damit, sich Sorgen über Haie zu machen, während der Stabsbootsmann erklärte, wie man im Wasser nach ihren verräterischen Rückenflossen Ausschau hielt, »‘türlich, wenn einer von unten raufkommt, sehen wir ihn erst, wenn’s wahrscheinlich schon zu spät ist. Da kann man nicht viel gegen machen.«
Anfangs kam ihm das Wasser warm vor, aber als die Minuten langsam verstrichen, merkte Jamie, wie die Wärme aus seinem Körper gesogen wurde. Ich erhöhe die Temperatur des Pazifik, sagte er sich. Hoffentlich wissen die Haie das zu schätzen.
Joannas Stunde kam gegen Sonnenuntergang. Sie schien starr vor Entsetzen zu sein, aber sie schaffte es, die Beine steif auf den vom Wasser glitschigen Wulst zu schwingen und fast geräuschlos ins Meer zu gleiten. Sie hing fast wie ein Leichnam im Wasser, ohne die Beine zu bewegen, die angespannten Arme ausgebreitet, die Augen groß und starr, die Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammengepreßt.
Hin und wieder trieb sie vom Gummiboot weg, unternahm aber nie auch nur den leisesten Versuch, wieder zurückzuschwimmen. Der Stabsbootsmann brüllte sie an, mußte sie aber jedesmal an der Sicherheitsleine näher heranholen.
Als Jamie im abgedunkelten Rover auf seiner Liege lag und zuhörte, wie der Marswind ihn rief, sah er Joanna wieder vor sich, wie sie allein im kalten schwarzen Meer trieb, von panischer Angst erfüllt, und das erbitterte Gebrüll des Stabsbootsmanns und die verlegene Aufmerksamkeit der anderen Trainingsteilnehmer ertrug, bis der Stabsbootsmann sie schließlich wieder an Bord des Gummiboots zog. Zitternd wickelte Joanna sich in eine Decke und kroch in eine Ecke des Gummiboots.