Sie waren alle vier leger in ihre vorschriftsmäßigen brauen Overalls gekleidet; nur Ilona hatte sich ein buntes Tuch um die Taille gebunden. Die Raumanzüge brauchten sie erst, wenn sie sicher auf der Sohle des Canyons angelangt waren und den Rover verlassen wollten.
Jamie spürte, wie ihm der Schweiß in Bächen die Rippen hinunterlief. Schweißperlen traten ihm auf Stirn und Oberlippe.
Seine Eingeweide hüpften und zuckten.
Das mittlere Modul des Rovers war für diese Exkursion umgebaut worden. Es diente nicht nur als Stauraum für Instrumente und Ausrüstungsgegenstände, sondern auch als Miniaturlabor, in dem die drei Wissenschaftler die gesammelten Steine und Bodenproben untersuchen und vorläufige Analysen durchführen konnten. Vom vorderen Modul aus gelangte man durch die Luftschleuse ins provisorische Labor. Das Logistik-Modul war mit Methantreibstoff für den Stromgenerator und die Treibstoffzellen gefüllt, dazu mit ihren anderen Verbrauchsmaterialien: Notsauerstoff, zusätzlichem Wasser und Nahrung.
Trotz des an Totenstarre erinnernden Griffs, mit dem Connors das Lenkrad gepackt hielt, wirkte er völlig gelassen. Er manövrierte langsam um einen Krater herum, der sich vor ihnen abzeichnete wie ein von einer Artilleriegranate gerissenes Loch, und steuerte den Rover zwischen dessen Wall und dem gefährlich nahen Rand der Rutschung hindurch. Wie Jamie nebenbei bemerkte, war die Rutschung immerhin schon so alt, daß sie hin und wieder von ziemlich großen Meteoriten getroffen worden war.
»Wo sind diese Nebelschleier, die Sie gesehen haben?« fragte Connors. »Im Moment sieht alles völlig klar aus.«
»Ich weiß auch nicht. Vielleicht bilden sie sich erst später.«
»Ist immer komisch mit dem Dunst. Aus dem einen Blickwinkel sieht alles völlig klar aus, aber wenn man aus einer anderen Richtung kommt und die Sonne in einer anderen Position ist, kann der Dunst alles bedecken und wie ein Rauch Vorhang aussehen.«
Aber jetzt war überhaupt keinen Dunst da. Jamie spürte, wie sich eine Ranke der Furcht in sein Bewußtsein schlängelte.
Vielleicht war der Dunst, den Mikhail und ich gesehen haben, ein seltenes Phänomen, etwas Einmaliges. Vielleicht habe ich uns hierhergeschleift, um ein Phantom zu jagen, das gar nicht existiert.
Der Hang war mit Felsbrocken und Kieselsteinen übersät, aber sie waren alle nicht so groß wie die Felsblöcke, auf die sie oben auf dem Marsboden gestoßen waren. Jamie sah keine Staubhäufchen an den größeren Steinen. Entweder gibt es hier unten keinen Wind, überlegte er, oder er weht so stark, daß er sämtlichen Staub wegbläst, der sich gesammelt hat.
Die aus Metallplatten bestehenden Räder des Rovers wurden jeweils von einem eigenen unabhängigen Elektromotor angetrieben, was dem Fahrzeug die bestmögliche Bodenhaftung verlieh. Trotzdem merkte Jamie hin und wieder, wie der Boden unter ihnen wegrutschte, und hörte einen Radmotor plötzlich aufheulen, bevor er sich auf den losen Schotter darunter einstellte.
Connors murmelte fortwährend so leise vor sich hin, daß Jamie nicht einmal aus dieser Nähe verstehen konnte, ob der Astronaut fluchte oder betete. Vielleicht beides, dachte er.
Sie kamen an der einen geologischen Sonde vorbei, die auf dem Hang gelandet war. Ihr kurzer, dicker weißer Rumpf hob sich gegen den rötlichen Boden und die Steine ab wie ein grellbuntes Reklameschild mitten in der Sahara. Der Boden um die Sonde herum war natürlich fest und leicht zu befahren, das Gefälle erheblich geringer als in dem Bereich, den sie soeben durchquert hatten.
»Sieht so aus, als ob es da vorne leichter würde«, sagte Connors.
Jamie sah, daß der Boden ebener und glatter war. Keine Krater in Sicht.
»Gut«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Ein Schatten glitt über das Cockpit hinweg, und im selben Moment rief Ilona: »Seht mal!«
Eines der RPVs huschte so tief an ihnen vorbei, daß Jamie die glitzernden Augen der Kameraobjektive an seinem Bauch ausmachen konnte. Er wußte, daß das andere, von Paul Abell gesteuerte RPV hoch über ihnen dahinsegelte und das gesamte Gebiet beobachtete. Der Tiefflieger erkundete das Terrain vor ihnen. Mironow, der an seinen Kontrollen saß, erstattete Connors Minute für Minute über den seitlich an seinen Kopf geklemmten Ohrstöpsel Bericht über das, was er sah.
»Wir müßten bald unten sein«, sagte Connors leise. Ob seine Worte an Mironow oder die anderen im Rover gerichtet waren, konnte Jamie nicht erkennen.
Genau in diesem Augenblick rutschte der Rover weg. Seine einzelnen Teile verschoben sich in der unerbittlichen Zeitlupe eines Alptraums gegeneinander; der vordere Teil wurde plötzlich seitwärts gezogen, weil sich die schwereren Segmente in der Mitte und hinten querstellten. Radmotoren kreischten, und es gab einen lauten, dumpfen Schlag. Sie hüpften und holperten, und Connors wirbelte das Lenkrad erst in die eine, dann in die andere Richtung.
»Festhalten!«
Jamie stemmte seine gestiefelten Füße gegen den Boden und streckte die Hände aus, um sich an der Kontrolltafel abzustützen. Der Rover krachte gegen einen weiteren Stein, schwenkte in einem verrückten Winkel herum und kam schließlich knirschend zum Stehen.
Eine ganze Weile waren im Cockpit nur die tiefen, ängstlichen Atemzüge von vier schweißnassen Menschen und das Knirschen und Knistern von überhitztem Metall zu hören.
Connors schluckte so schwer, daß sie es alle hören konnten.
Dann sagte er: »Muß ein alter Krater gewesen sein, der mit losem Schutt gefüllt war.«
»Oder mit Staub«, hörte Jamie sich mit hohler Stimme sagen.
»Hat sich irgendwie eher wie Sand angefühlt.«
»Sitzen wir fest?«
Connors schüttelte den Kopf. »Kann sein, daß wir diese Sektion von den anderen beiden abtrennen müssen, aber ich glaube, wir schaffen es.«
»Ohne den Treibstofftank und das Labor?« fragte Ilona.
»Lassen Sie’s mich erst mal probieren…«
So sanft wie eine Mutter, die ihr Baby streichelt, setzte Connors die Fußspitze auf das Gaspedal. Die Elektromotoren summten in einer tiefen Lage. Jamie spürte, wie der Rover erschauerte und sich ein ganz kleines Stück nach vorn schob.
»Wir müssen alle drei Segmente in einer Linie ausrichten, sonst fangen wir wieder an zu rutschen«, murmelte Connors.
»Ist wie bei ‘nem Sattelschlepper…«
Ganz, ganz langsam krochen sie dahin. Auf dem langen, ernsten Gesicht des Astronauten zeigte sich allmählich ein vorsichtiges kleines Lächeln. Die Heulen der Elektromotoren wurde höher, das Fahrzeug bewegte sich sicherer vorwärts, und Connors’ Lächeln wurde immer breiter, bis sie schließlich zuversichtlich dahinrollten und all seine strahlend weißen Zähne zu sehen waren.
»Gracia a dios«, kam Joannas atemlose Stimme von hinten.
Noch ein paar kleinere Stöße, und Jamie sah, daß sie ebenen Boden erreicht hatten.
»Das war’s«, sagte Connors zufrieden. »Wir sind auf dem Grund des Canyons.«
»Gute Arbeit«, sagte Jamie.
»Vorhin ist es mir ein paar Minuten lang gar nicht so gut gegangen.«
»Wem sagen Sie das!«
Ihr Plan sah vor, daß sie am Fuß der Rutschung haltmachten, draußen Gesteins- und Bodenproben sammelten und dann bis zum Einbruch der Dunkelheit an der Nordwand des Canyons entlangfuhren. Gleich am nächsten Morgen würden sie noch ein paar Proben nehmen und dann weiterfahren, bis sie dorthin kamen, wo Jamie sein ›Dorf‹ gesehen hatte. Dort würden sie feststellen, ob sie zu der Spalte hinaufklettern konnten, in der sich die Gesteinsformation befand. Zumindest konnten sie weitere Fotos von ihr machen und versuchen, aus der Ferne eine Spektralanalyse der Formation vorzunehmen, indem sie mit einem Laser eine winzige Menge Stein wegbrannten und das Spektrum der dabei entstehenden Gaswolke fotografierten.
»Ich begleite dich bei der ersten EVA«, sagte Joanna, nachdem sie rasch eine kalte Mahlzeit zu sich genommen hatten.