»Ja. Das war das erste, was ich getan habe. Sie sahen alle durchaus normal aus. Das Bodenteam ist bei guter Gesundheit.«
»Und die psychologischen Berichte?«
»Die scheinen ebenfalls normal zu sein, obwohl sich ein Problem in diesem Bereich leichter verbergen läßt als bei den ärztlichen Untersuchungen.«
»Haben Sie mit Doktor Reed darüber gesprochen?«
»Noch nicht. Die Missionsvorschriften legen eindeutig fest, daß ich Sie über dieses Problem informieren muß, bevor ich mit jemandem vom Bodenteam Kontakt aufnehme.«
»Ah ja. Die Vorschriften. Nun, dann wollen wir beide mit Doktor Reed sprechen. Und zwar sofort.«
Tolbukhin zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Klein machte ein besorgtes Gesicht.
SOL 36
ABEND
»Nein, von einer akuten Verschlechterung ihres körperlichen Zustands habe ich nichts bemerkt«, sagte Tony Reed zu Lis Bild auf seinem Kommunikationsbildschirm. Er warf einen Blick zu Wosnesenski, der ihn mit finsterer Miene ansah. »Hier scheinen alle körperlich einigermaßen in Form zu sein. Auch Naguib hat sich recht gut von seinen Prellungen und Quetschungen erholt.«
Reed saß in der kleinen Kabine seines Krankenreviers. In der Nähe der Falttür, außerhalb des Blickfelds der in die Kommunikationsanlage eingebauten Kamera, saß Wosnesenski bedrohlich wie ein Polizist auf dem Untersuchungshocker, die Arme störrisch vor der dicken Brust verschränkt.
»Wie erklären Sie sich dann diesen Leistungsabfall?« fragte Dr. Yang über Lis Schulter hinweg.
Reed setzte ein ausdruckslos-höfliches Lächeln für sie auf.
»Das muß ich mir erst genauer ansehen. Als erstes werde ich schnell einmal ein paar Untersuchungen durchführen, um mich zu vergewissern, daß wir nicht mit irgendwelchen Erregern infiziert sind.«
»Wie ist die psychologische Verfassung des Teams?« fragte Li. Sein langes, bleiches Gesicht war von Sorgenfalten gefurcht.
»Keine größeren Probleme. Alle scheinen mit ihrer Tätigkeit zufrieden zu sein. Selbst Patel hat sich wieder an die Arbeit gemacht und aufgehört zu meckern.«
Yang fragte: »Weshalb hat Brumado Waterman bei der EVA begleitet und nicht Malater, wie es im Plan vorgesehen war?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Reed und widerstand dem Drang, erneut zu Wosnesenski hinüberzuschauen. »Da muß ich sie fragen.«
Li blickte einen langen Moment vom Bildschirm herunter, direkt in Reeds Augen. Aus seinen Sorgenfalten um Mund und Augen begann ein ganz leiser Hauch von Argwohn zu sprechen. So kam es Tony jedenfalls vor.
»Das ist eine sehr ernste Angelegenheit«, sagte er schließlich.
»Die Berichte, die Sie geschickt haben, lassen darauf schließen, daß mit den Mitgliedern des Bodenteams körperlich und seelisch alles in Ordnung ist, aber ihre Leistungsfähigkeit läßt in alarmierendem Tempo nach. Sie müssen herausfinden, was da vorgeht. Wenn Ihnen das nicht gelingt, muß ich das ganze Team zurückbeordern und die Erkundung der Marsoberfläche vorzeitig abbrechen.«
»Daran brauchen Sie nicht einmal zu denken!« fuhr Reed auf. »Falls wirklich etwas nicht stimmt – was ich bezweifle –, bin ich voll und ganz imstande, die Ursache des Problems festzustellen und die erforderlichen ärztlichen Maßnahmen zu ergreifen.«
Li nickte. Seine Miene war immer noch mißtrauisch. »Bitte unterrichten Sie Doktor Yang täglich. Und falls erforderlich, auch öfter als einmal am Tag.«
»Ja. Natürlich.«
»Noch etwas?« fragte Li, an Dr. Yang gewandt, und drehte sich ein wenig zu ihr um.
»Ich würde gern auf die Oberfläche hinuntergehen«, sagte sie abrupt. »Um Doktor Reed zu assistieren.«
Wosnesenski schüttelte heftig den Kopf.
»Das ist nicht nötig«, sagte Tony. »Wenn es ein Problem gibt, kann ich es ausräumen. Und falls ich Unterstützung brauche, werde ich Sie darum bitten. Darauf können Sie sich verlassen.«
Li sah Dr. Reed und dann Dr. Yang kurz an, dann richtete er seinen Blick wieder auf Reed. Selbst durch den Kommunikationsbildschirm spürte Tony den Argwohn, der immer noch in diesen mandelförmigen Augen schimmerte.
»Leute aus dem Orbit zum Mars hinunterzuschicken, ist keine Kleinigkeit. Wir haben nur noch zwei Abstiegs- und Aufstiegsfahrzeuge. Die muß ich nach Möglichkeit zurückhalten, falls es einmal einen größeren Notfall gibt.«
»Ich versichere Ihnen, es ist nicht nötig«, wiederholte Reed.
»Führen Sie Ihre Untersuchungen rasch durch«, sagte Li.
»Das ist eine äußerst dringliche und wichtige Angelegenheit.«
»Ja, ich verstehe.«
»Gut. Und halten Sie Verbindung mit Doktor Yang.«
»Mache ich. Bestimmt.«
Endlich besänftigt, wenn auch offenbar nicht zufrieden, beendete Li das Gespräch und verabschiedete sich. Reed starrte eine ganze Weile auf den leeren Bildschirm. Sein schattenhaftes Spiegelbild gab seinen Blick besorgt zurück.
»Sehr gut«, sagte Wosnesenski. »Das haben Sie gut gemacht.«
»Ja«, antwortete Reed, »aber ich bin nicht so sicher, daß ich das Richtige getan habe.«
»Wir brauchen hier keinen zweiten Arzt. Das würde nur Probleme verursachen. Sie haben gehört, was Li gesagt hat: Er denkt schon daran, die Mission abzubrechen.«
»Aber Mikhail Andrejewitsch, wenn wir doch noch krank werden…«
»Sie sind der Teamarzt.« Wosnesenski richtete einen Wurstfinger auf den Engländer. »Finden Sie heraus, was los ist, und bringen Sie es in Ordnung. Ein Doktor reicht.«
Er drehte sich um, schob die Falttür auf und beendete damit die Diskussion.
Reed, der allein in seinem Krankenrevier zurückblieb, trommelte mit den Fingern auf seine Schreibtischplatte. Etwas stimmte ganz eindeutig nicht, das wußte er. Trotz der ärztlichen Untersuchungen ist hier irgend etwas im Busch. Vor einer Woche hätte Wosnesenski garantiert nicht so reagiert. Der Mann ist so sicherheitsbewußt gewesen, daß es beinahe grotesk war. Jetzt will er nicht einmal in Erwägung ziehen, daß Yang herunterkommt, um mir zu helfen.
Sind wir alle mit irgend etwas infiziert? Werden wir alle wahnsinnig?
Wosnesenski ging mit finsterer Miene an der Kombüse vorbei zu seiner Privatkabine. Erst dann gestattete er sich ein müdes Seufzen und setzte sich auf seine Liege. Die Luftmatratze erwiderte sein Seufzen. Die Beine taten ihm weh. Er war gereizt, beinahe wütend.
Ärzte, grummelte er vor sich hin. Je mehr sie an einem herumdoktern, desto mehr finden sie auch. Wir haben uns irgendeine Krankheit geholt, eine Art Grippe, und deswegen denkt Li daran, die ganze Mission abzubrechen. Wahnsinn!
Totaler Wahnsinn.
»Bist du krank?« fragte Jamie.
Ilona blickte mit trüben Augen zu ihm auf. »Ich weiß nicht, was das ist. Meine Arme und Beine tun scheußlich weh. Ich habe anscheinend überhaupt keine Kraft…«
»Was hat Tony gesagt?«
Sie errötete schuldbewußt. »Ich habe ihn nicht angerufen. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, daß er uns meinetwegen zur Kuppel zurückbeordert.«
Sie waren im Labormodul des Rovers. Ilona saß an der kleinen Säge mit den Diamantzähnen, mit der sie Steine zu Untersuchungszwecken in dünne Scheiben schnitten. Jamie stand neben ihr in dem schmalen Gang zwischen den Borden mit Ausrüstungsgegenständen und den Arbeitsplatten. Joanna saß etwa einen Meter entfernt am Mikroskop und beobachtete sie aufmerksam.
»Vielleicht solltest du dich doch lieber ausruhen«, sagte Jamie.
Ilona schüttelte störrisch den Kopf. »Nein. Das nützt nichts.
Und wir haben einen Haufen Arbeit zu erledigen.«
Jamie hatte selber Kopfschmerzen. Er war der Meinung, daß Ilona sich hinlegen sollte, daß er Tony Reed anrufen und melden sollte, daß sie krank war. Aber er wußte, daß sie sich dagegen wehren würde, und er hatte nicht die Kraft, eine Auseinandersetzung vom Zaun zu brechen.