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Toshima schloß erneut die Augen, diesmal sanft, ohne Anspannung. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ das Kinn herabsinken. Wenn zufällig jemand vorbeigekommen wäre, hätte es für ihn so ausgesehen, als ob der japanische Meteorologe ein Nickerchen machte.

Er versuchte, seinen Geist zu reinigen, indem er ein Bild des göttlichen Fudschijama mit seinem wundervoll proportionierten, schneebedeckten Kegel vor einem klaren blauen Winterhimmel heraufbeschwor. Seine Gedanken wanderten langsam und träge von einem Bild aus der Vergangenheit zum nächsten. Er erinnerte sich an seinen ersten Aufenthalt in den USA, in Boston, und daran, wie kalt der vom eisigen Wasser im Hafen herüberwehende Winterwind auf dem Flughafen gewesen war. Wie schneidend der Wind sogar in der Stadt gewesen war, in dem Hotel, wo der Meteorologen-Weltkongreß stattfand.

Die Türme von Bostons Prudential Center erzeugten einen Windkanal, hatte man ihm erklärt. Alle Meteorologen staunten über das Phänomen dieses Mikroklimas. Selbst wenn woanders in der Stadt Windstille herrschte, pfiff der Wind im Prudential Center so heftig zwischen den Gebäuden hindurch, daß er in den dekorativen Teichen und Brunnen weiße Schaumkronen aufpeitschte.

Toshimas Augen öffneten sich abrupt. Ein Windkanal!

Er rollte mit seinem kleinen Stuhl zu der Tastatur vor seiner großen Karte und hämmerte wie wild auf sie ein. Die Kopfschmerzen waren vergessen. Wie wird sich ein hohes Druckgefälle auf den langen, schmalen Korridor der Valles Marineris auswirken? Wie wird die herannahende Kaltfront die Winde im Tithonium Chasma beeinflussen?

Er brauchte einen großen Teil der Nacht, aber schließlich hatte Toshima seine Antwort. Er überprüfte sie einmal und noch ein zweites Mal. Ja, das Ergebnis stand zuverlässig fest.

Wieder zitterte er, diesmal vor freudiger Erregung über den Sieg. Und weil er jetzt wußte, warum er Angst hatte. Er hatte eine große Entdeckung gemacht. Sie sagte ihm, daß Waterman und die anderen in ernster Gefahr schwebten.

Als das erste Licht der Morgendämmerung in die Kuppel sickerte, stand Toshima nervös und mit trüben Augen auf, um Wosnesenski zu wecken.

»Die Leute im Rover müssen gewarnt werden«, murmelte er vor sich hin. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

DER LANGE WINTER

Die blaue Welt hatte weitaus mehr Glück als ihr roter Gefährte. Da sie größer und näher an der Sonne war, behielt sie ihre tiefen Ozeane aus Wasser und ihren Schutzmantel aus Luft.

Das Leben blühte und gedieh.

Allerdings nicht ohne Unterbrechung. Nicht ohne Katastrophen. Riesige Geschöpfe rissen die Herrschaft über die Meere, das Land und sogar die Luft an sich, nur um dann auszusterben und vollständig ausgelöscht zu werden. Manchmal fuhr die Hand des Todes so gründlich über die blaue Welt, daß sie fast alles Leben auf ihr hinwegfegte.

Aber das Leben rappelte sich immer wieder auf, bevölkerte die blaue Welt immer wieder mit neuen und anderen Geschöpfen.

Ausgehend von den Polen, breiteten sich gewaltige Eisflächen aus; riesige Gletscher kamen unaufhaltsam von den Bergen herab und überzogen das Land mit kilometerdicken Eisschichten. Ein so großer Teil des Meereswassers wurde in Eis verwandelt, daß der Meeresspiegel sank. Die blaue Welt wurde weiß und glitzerte unter der fahlen Sonne von Wintern, die hunderttausend Jahre und länger dauerten.

Die Kälte erreichte auch die rote Welt.

Die rote Welt hatte sich noch nicht ganz von dem großen Kataklysmus vor langer Zeit erholt. Doch ein ausgedehntes neues Meer war entstanden, schimmerndes Wasser, das fast den halben Planeten bedeckte. Ungeheure Vulkane reckten ihre mächtigen Gipfel den Sternen entgegen und übergossen das Land mit heißer Lava und dampfenden Gasen. Tief unter der Kruste der roten Welt gab es noch Energie, eine schmelzflüssige Energie, die die höchsten Berge aller Zeiten erschuf.

Wie immer, wenn Wasser und Energie vorhanden sind, war dies die Chance für die Geburt des Lebens. Wasser und Energie und Zeit: das ist alles, was das Leben braucht.

Aber dann begann die Kälte, ihr tödliches Werk zu verrichten. Das große, den halben Planeten umspannende Meer gefror und verschwand unter einer Decke aus Schutt und Staub.

Die Vulkane versanken in Ruhe und Untätigkeit. Auf der roten Welt begann ein langer, langer Winter, der bis zum heutigen Tag andauert.

SOL 37

MORGEN

Jamie stand nackt unter der heißen Sonne des Mars. Schweiß lief ihm die Rippen und Beine hinunter, als die Götter sich um ihn versammelten. In seinen Lenden tobte der süße Schmerz der Sehnsucht. Voller Verlangen streckte er die leeren Hände aus.

Das Land war rot wie Blut, der Himmel von einem so strahlenden Blau, daß ihm die Augen wehtaten, wenn er nach oben schaute. Jenseits der sandigen Wüste kamen die Götter in ihren feurigen Wagen herab, einer nach dem anderen. Überall, wo sie aufsetzten, verwandelte sich das Marsgestein sofort in leuchtende Blüten. Bald war die ganze Wüste von einem bunten Teppich bedeckt, und sogar die zerklüfteten Klippen in der Ferne veränderten sich und gerannen zu Städten aus Adobe und Holz. Jamie sah Rauchfahnen aus ihren Schornsteinen aufsteigen.

Die Götter trugen Federn und glitzernde Perlen. Ihre Gesichter waren die von Totems: Fuchs, Adler, Hund, Schlange. Sie hatten prachtvolle Körper, aufrecht und hochgewachsen wie stolze Kiefern, mit herrlichen Muskeln; sie glänzten wie poliertes Kupfer.

Sie versammelten sich feierlich und schweigend um Jamie, bildeten einen Kreis um ihn, bis er sich in ihrer hehren Gegenwart wie ein kleines Kind fühlte. Jamie betastete das Totem, das sein Großvater ihm gegeben hatte; der Bär war sein Beschützer und sein Führer.

»Ich bin zu euch zurückgekehrt«, sagte Jamie zu den Göttern. »Ich bin in euer Reich zurückgekommen.«

Die Götter schwiegen. Sie starrten wortlos auf Jamie herab, während die sanften Winde des Mars ihr Morgenlied sangen.

»Ich komme aus weiter Ferne«, erklärte Jamie und zeigte auf einen einzelnen Stern, der sogar am Tageshimmel leuchtete.

»Von der Erde.«

Die Götter rückten näher, ragten drohend über Jamie auf, so daß er sich klein und schwach vorkam. Er hatte Angst. Seine Knie zitterten. Er schwitzte stark.

»Du hast alle Krankheiten des weißen Mannes mitgebracht«, sagte die Stimme der Götter. »Du hast den Tod zu unserem Wohnsitz gebracht.«

»Nein!« protestierte Jamie. »Ich bringe euch Leben!«

»Du bringst den Tod.«

Sie erhoben die Hände gegen Jamie. Jeder hatte einen mächtigen Gegenstand in der Hand. Bei manchen war es eine Rassel, die aus einem riesigen Flaschenkürbis gefertigt und in fröhlichen Farben bemalt war. Bei anderen war es ein schwarz gestrichener, äußerst bedrohlich wirkender Knüppel. Sie schwangen die Knüppel, rasselten mit den Kürbissen. Und verschwanden.

Die Götter verschwanden, verblaßten, und aus der Welt um sie herum entwich alles Leben. Die Blumen, die Blüten, die schönen Adobestädte schmolzen dahin, lösten sich auf und lie

ßen nur die leere Trostlosigkeit des Mars zurück, so weit das Auge reichte.

Das summende Rasseln der Flaschenkürbisse ertönte jedoch weiterhin – bedrohlich, beharrlich, unentrinnbar.

Jamie erkannte, daß es das Summen der Kommunikationskonsole war. Er schlug die Augen auf und wechselte so widerstrebend vom Traum zur Realität wie ein Mann, der ein warmes Feuer verläßt, um einem Wintersturm zu trotzen.

Er befand sich im Rover. Einen halben Meter über ihm dehnte sich die graue Unterseite von Joannas Liege. Noch näher, zu seiner Linken, lag Connors ausgestreckt und in seine Decke verheddert. Das Gesicht des Astronauten war von einem Schweißfilm bedeckt. Sein schlafendes Gesicht war verzerrt; er sah aus, als hätte er Schmerzen.