»Vielleicht ist es gar keine richtige Krankheit«, sagte Wosnesenski.
»Keine Krankheit?«
»Bergleute bekommen eine Staublunge«, sagte Wosnesenski.
»Nicht von Bazillen, sondern weil sie Kohlenstaub einatmen.«
Reed starrte ihn an. Dieser Kosmonaut hat tatsächlich ein Gehirn in seinem dicken Schädel!
»Vielleicht enthält der Marsstaub eine Substanz, die schädlich für uns ist«, fuhr Wosnesenski fort.
»Aber wir geben uns doch große Mühe, den Staub aus unseren Anzügen und unserem Wohnbereich fernzuhalten«, hob Reed hervor.
»Der Staub ist sehr fein. Vielleicht bemühen wir uns nicht genug.«
»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, gestand Reed.
Mironow sagte: »Wir könnten die Luft hier drin überprüfen und feststellen, wieviel Staub sie enthält.«
»Ja«, sagte Wosnesenski. »Das müssen wir tun.«
Reed wollte gerade etwas erwidern, als Toshima zum Tisch gerannt kam. Seine Augen waren groß vor Erregung. Wenn er die ›Marsgrippe‹ hatte, dann war es ihm jedenfalls nicht anzumerken.
»Der Staubsturm!« schrie er beinahe. »Er hat begonnen!«
SOL 37
NACHMITTAG
Ausgangsverbot.
Jamie kam sich wie ein unartiger Teenager vor, der von seinen Eltern bestraft wurde. Der Rover war voll und ganz fahrtüchtig, und obwohl er sich schwach fühlte und Kopfschmerzen hatte, sah er keinen Grund, warum er nicht weiterfahren sollte, näher zu dem ›Dorf‹, das er gesehen hatte.
Dort müssen wir hin, sagte er sich immer wieder. Vielleicht kann ich sogar hinaufklettern, wenn wir erst mal am Fuß der Felswand unter dieser Spalte angelangt sind. Ich wette, es gibt sogar einen natürlichen Pfad, der zur Spalte und der Formation darin hinaufführt. Vielleicht haben sie auch Stufen in den Stein geschlagen.
Der Tag schien vollkommen klar zu sein, obwohl Toshima darauf beharrte, daß ein Staubsturm durch den Canyon auf sie zugerast kam und sie bald einhüllen würde.
Früher am Vormittag hatten sogar die Nebelschleier da drau
ßen gehangen, dünne graue Schlieren, die in der frühmorgendlichen Kälte in der Luft schwebten und langsam verdunsteten, als die Sonne in den Canyon fiel. Wie Geister, die verschwinden, wenn das Licht sie berührt, dachte Jamie.
Wenn der Nebel sich auflöst und sich dann am nachten Morgen erneut bildet, folgerte er, bleibt die Feuchtigkeit entweder in der Schlucht, oder sie wird aus einer Quelle im Boden oder in den Felswänden erneuert.
Herrgott! Es gibt so vieles, wonach wir suchen müssen, und sie sperren uns in diese Aluminiumdose hier ein!
Zum vierzigsten Mal an diesem Morgen marschierte er durch das ganze Kommandomodul des Rovers, vom Cockpit-Schott vorbei an der kleinen Kombüse durch den engen Gang zwischen den eingeklappten Liegen zu den Borden mit den Geräten und schließlich zur Luftschleuse am hinteren Ende.
Connors rief von vorn aus dem Cockpit: »Ich glaube, es geht los.«
Jamie lief die neun Schritte, die man brauchte, um das Modul in seiner ganzen Länge zu durchqueren, und steckte den Kopf durchs Schott. Durch die gewölbte Kanzel des Cockpits sah der Canyon draußen genauso aus wie beim letzten Mal, als er hinausgeblickt hatte.
Connors kam ihm zuvor. »Schauen Sie mal zum Himmel rauf.«
Jamie glitt auf den leeren Sitz neben dem Astronauten, so daß er nach oben schauen konnte. Der rosafarbene Himmel sah normal aus – fast normal.
»In den letzten fünf Minuten ist es zehn Prozent dunkler geworden«, sagte Connors und hielt eine Farbvergleichsskala hoch.
»Es gibt also tatsächlich einen Sturm.«
»Ja.«
»Ich gehe lieber nach hinten und sage es gleich den anderen.«
»In Ordnung. Wir haben ja sonst nichts zu tun.« Connors setzte sich die Kopfhörergarnitur auf, während er sprach, und streckte die Hand zum Schalter der Kommunikationsanlage aus.
Joanna und Ilona saßen im Labormodul so eng beieinander, daß ihre Schultern sich beinahe berührten. Das Licht war gedämpft; die leuchtenden Anzeigen auf den Computerbildschirmen verbreiteten mehr Helligkeit als die heruntergeregelte Neonröhre über ihnen.
Keine der beiden Frauen blickte auf, als Jamie durch die Luftschleuse hereinkam. Sie waren beide über etwas auf dem Arbeitstisch gebeugt.
»Der Sturm geht los«, sagte Jamie.
Joanna drehte leicht den Kopf und sah ihn über die Schulter hinweg an. In dem matten Licht konnte er ihre Miene nicht erkennen. Er sah nur, daß sie furchtbar blaß war.
»Die Kernproben-Daten sind auf dem Bildschirm hier«, sagte sie und tippte kurz an den Computer neben sich.
»Irgendwas Interessantes?«
»Sieh selbst«, sagte sie und wandte sich wieder der Arbeit zu, mit der sie und Ilona gerade beschäftigt waren.
Jamie runzelte die Stirn über ihre abrupte Art. Er beugte sich hinüber, da es keine anderen Stühle im Labor gab, und las die Zahlen auf dem Bildschirm ab.
Keine große Differenz zu den Werten, die sie von anderen Kernproben bekommen hatten, wie er sah. Außer daß kein Eis in der Probe war, keine Permafrostschicht.
Wo kommt das Wasser dann her, fragte sich Jamie.
Er rief eine Parallelanzeige auf, die die Ergebnisse der in der Nähe der Kuppel gesammelten Kernproben mit denen aus dem Canyon verglich. Belanglose Unterschiede, viel weniger, als Jamie erwartet hatte. Bis auf das Wasser. Hier gibt es weniger Wasser als oben auf der Ebene. Weniger! Absurd. Er verstand das nicht.
Draußen heulte plötzlich der Wind. Jamie richtete sich auf, und ein Schmerz fuhr ihm durch den Rücken. Er hatte länger gebückt dagestanden, als er gemerkt hatte. Der Wind sang jetzt geradezu. Im Labormodul gab es keine Fenster; man konnte nicht sehen, was draußen vorging.
Joanna und Ilona saßen immer noch über ihre Arbeit gebeugt. Die Diamantensäge summte kurz und heulte dann auf, als sie in Stein biß.
»Ich gehe nach vorn und schaue mir den Sturm an«, sagte er.
»Gut«, erwiderte Joanna, ohne den Kopf zu heben.
Neugierig fragte er: »Woran, zum Teufel, arbeitet ihr denn?
Was ist so faszinierend?«
»Geh nach vorn, Jamie, und laß uns in Ruhe. Wir rufen dich, wenn wir soweit sind und reden wollen.«
Du liebes bißchen, grummelte Jamie in sich hinein. Dann fiel ihm wieder ein, wie besitzergreifend Joanna geworden war, als sie den grüngestreiften Stein gefunden hatten.
Irritiert und etwas verärgert begab er sich wieder ins Kommandomodul. Connors war immer noch vorn im Cockpit. Er mampfte einen Schokoriegel und hatte die Kopfhörergarnitur noch aufs Ohr geklemmt, den Mikrofonarm aber vom Mund weggebogen.
»Toshima sagt, wir werden den ganzen Tag in dieser Waschküche sitzen«, verkündete er mürrisch.
Jamie starrte auf das Bild, das sich ihm draußen bot. Der Wind schrie wie ein Kleinkind, hoch und dünn. Es war ganz dunkel geworden, eine unheimliche, fluktuierende Finsternis, ganz anders als bei Nacht, obwohl es nicht mehr viel heller als kurz nach Sonnenuntergang war. Ein diffuses Halbdunkel, als hätte man eine Decke über dem Kopf. Irgendwie bedrohlich, tief unten im Bauch. Jamie konnte die Felswand kaum sehen, obwohl sie keine fünfzig Meter von der Nase des Rovers entfernt war. Der Himmel war von Dunkelheit ausgelöscht.
Er glitt auf den Cockpitsitz und schaute auf den Hauptmonitor an der Instrumententafel hinunter.
Connors hatte ein Satellitenbild der Region daraufgelegt. Jamie konnte den Grabenkomplex deutlich sehen, aber das Innere das gewundenen Labyrinths war bis zum Rand mit wogenden Wolken aus rötlichgrauem Staub gefüllt. Sie hoben und senkten sich wie Meereswellen und erweckten den Anschein, als wären sie weich und dick genug, um den Körper zu tragen, wenn man sich mit ausgebreiteten Armen und Beinen in sie hineinlegte.