Niemand achtete auch nur auf ihn. Und das war ihm auch ganz recht so, denn er hatte beschlossen, absolutes Stillschweigen zu bewahren, egal, was passierte. Er war nicht der Mann, der beim Triumphzug seines Vereins für Regenwetter sorgen wollte.
SOL 37
ABEND
Dr. Yang Meilin schnaubte verächtlich, als sie die Daten auf ihrem Bildschirm sah. Sie schob ihren Stuhl von dem winzigen Schreibtisch zurück, stand auf und öffnete die Falttür ihres Krankenreviers.
Dr. Li war natürlich in der Kommandosektion, mitten in einer Dreierkonferenz mit dem Exkursionsteam unten im Tithonium Chasma und den Flugkontrolleuren in Kaliningrad.
Sie hatten also Leben auf dem Mars gefunden, dachte Dr.
Yang. Und sie sind alle krank. Vielleicht sterben sie sogar.
Könnte es da einen Zusammenhang geben? Nein, unmöglich, sagte sie sich.
Der Korridor war leer; außer dem Summen der Maschinen war nichts zu hören. Die gesamte Besatzung drängelt sich im Kommandomodul, stellte Yang fest. Niemand schenkt diesem medizinischen Notfall irgendwelche Beachtung. Niemand beachtet mich.
Als sie zum Kommandomodul kam, saß Dr. Li an der Kommunikationskonsole. Sämtliche Bildschirme waren erleuchtet.
Alberto Brumado strahlte glücklich vom Hauptbildschirm, während auf den anderen hohe Tiere aus Kaliningrad, Houston und offenbar auch aus Tokio zu sehen waren. Alles Männer. Die Bildfernsprechverbindung zum Exkursionsteam war wegen des Sturms unterbrochen, aber Joanna Brumado war über Funk zu hören. Sie versuchte, die Salven der Fragen zu beantworten.
Sie ist hübsch, dachte Yang, und sie ist die Tochter von Alberto Brumado. Jetzt hat sie Leben auf dem Mars gefunden.
Sie steht im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, ist jedermanns Objekt der Begierde. Ich dagegen bin bloß eine unscheinbare Ärztin, die schlechte Nachrichten bringt. Kein Wunder, daß sie mich am liebsten ignorieren würden.
Weiß Brumado, daß seine Tochter krank ist? Yang glaubte es nicht. Die Flugkontrolleure wußten es natürlich, aber bis jetzt war die Krankheit, die das gesamte Bodenteam befallen hatte, für sie nichts Ernsteres als eine Grippeattacke.
Es war aber mehr als eine Grippe. Yang war sich ganz sicher.
Was, wenn es tatsächlich marsianische Organismen in der Luft gibt? Viren oder Mikroben, die so winzig oder so andersartig sind, daß man sie bei den Lufttests nicht bemerkt hat?
Was, wenn sie menschliche Zellen doch infizieren können?
Sie schüttelte den Kopf, eine Bewegung, bei der ihre glatten Ponyfransen hin und her wedelten. Unsinn! Außerirdische Organismen können einfach keine terrestrischen Zellen befallen.
Ihr Stoffwechsel wäre völlig anders.
Und dennoch – dem wenigen zufolge, was sie über die von Brumado und Malater entdeckten flechtenähnlichen Geschöpfe aufgeschnappt hatte, waren sie irdischen Organismen erstaunlich ähnlich. Sie mußten eine DNA-Untersuchung vornehmen, dachte Yang. Und eine gründliche chemische Analyse.
Eine Marsseuche. Schon allein der Gedanke war so abstrus, daß man es nicht einmal ernstlich in Erwägung ziehen konnte.
Es war so unwahrscheinlich wie… wie – sie spürte, wie ein Schauer ihren Körper durchlief – so unwahrscheinlich wie ein Meteoritentreffer.
Dann merkte sie, daß sie auf Zehenspitzen in der Luke eines um den Planeten Mars kreisenden Raumschiffs stand und über die Schultern der um ihren Anführer versammelten Menge hinweg auf Dr. Li schaute, dem die Leiter des Marsprojekts gerade dazu gratulierten, daß er zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit extraterrestrische Lebensformen gefunden hatte. Was war da schon abstrus, schalt sie sich. Was war da schon wahrscheinlich oder auch unwahrscheinlich?
Wie glücklich sie alle aussahen. Selbst Li, die menschliche Vogelscheuche, der sich niemals entspannte, strahlte die vielen Bildschirme vor sich lächelnd an. Sie beglückwünschten sich alle gegenseitig, von Mann zu Mann, wie eine Altherrenmannschaft, die gerade einen unerwarteten Sieg errungen hatte, voller Zuversicht, daß diese Entdeckung ihre Zukunft sichern würde.
Aber nicht, wenn die Leute auf dem Mars sterben. Das wird allen einen fürchterlichen Schrecken versetzen. Und sie sterben tatsächlich. Trotz Reeds Versicherungen zeigten die Daten, daß etwas den Männern und Frauen auf dem Boden des Mars die letzten Kräfte entzog.
Sie werden schwächer, sagte sie sich. Sie sterben.
Es war ein bedeutsamer Tag gewesen. Trotz ihrer Müdigkeit und der Schmerzen hatten die vier im Rover den ganzen Nachmittag über mit der Kuppel, mit Li und den anderen Wissenschaftlern in den Schiffen im Orbit, mit den Flugkontrolleuren in Kaliningrad und dann in Houston und schließlich mit den Projektleitern in Moskau, Washington, Tokio und sechs anderen Hauptstädten auf der Erde in Funkverbindung gestanden.
»War ja klar, daß die gottverdammte Bildfernsprechverbindung ausgerechnet jetzt zusammenbricht«, grummelte Connors.
Die Satellitenantenne klemmte immer noch in ihrer halb eingefahrenen Position und war nicht zu gebrauchen. Aber die als Ersatz vorgesehenen Funkverbindungen funktionierten, obwohl die aus dem Orbit weitergeleiteten Übertragungen wegen der Störungen durch den Staubsturm leise und von knisternder Statik durchsetzt waren.
Joanna hatte über das Computermodem und das daran angeschlossene Fax sämtliche Daten über die Flechte durchgegeben, die sie und Ilona gewonnen hatten, und auch alle Mikroaufnahmen beigefügt. Ilona selbst ruhte sich auf ihrer Liege aus; nachdem sie praktisch in Jamies Armen zusammengebrochen war, hatte er die Liege ausgeklappt und darauf bestanden, daß sie zu schlafen versuchte.
Erst lange nach Sonnenuntergang wurden alle Funkkontakte beendet. Sie hätten noch endlos weiterreden können, aber Jamie hatte dringend darum gebeten, Schluß zu machen, und behauptet, sie müßten etwas essen und sich ausruhen, damit sie am nächsten Morgen frisch seien. Dr. Li hatte den Wink mit dem Zaunpfahl sofort verstanden.
»Ich übernehme alle weiteren Anrufe, damit Sie für Ihre Arbeit morgen früh fit sind«, sagte er.
Sie hatten den hohen Tieren des Projekts in den diversen Hauptstädten gegenüber nichts von ihrer Krankheit erwähnt.
Die Flugkontrolleure, die ebensoviel über ihren Zustand wußten wie Li, hatten es auch nicht getan. Niemand wollte den Triumph in diesem Augenblick trüben.
Nun saßen die vier um den schmalen Tisch des Rovers herum, wie üblich die Männer auf der einen Bank, die Frauen ihnen gegenüber. Ilona schien es nach den paar Stunden Schlaf ein wenig besser zu gehen; trotzdem sah sie blaß und verhärmt aus. Joanna war ebenfalls bleich und nervös; ihre Augen waren verschattet, die Wangen hohl.
Connors war gnadenlos fröhlich, als würde er es nicht wagen, etwas anderes als gute Laune zur Schau zu stellen. Jamie hatte jedoch den Eindruck, daß seine Bewegungen angestrengt und langsamer als sonst waren; sein Atem ging schwer.
»Wir müssen einen Toast ausbringen«, sagte der Astronaut, schlüpfte aus der Bank und ging zum Kühlschrank, der ins Schott der Kombüse eingebaut war. »Einen Toast auf die Entdeckung extraterrestrischen Lebens.«
Jamie hatte zu nichts Lust; ihm tat alles weh. Connors aufgesetzter Enthusiasmus irritierte ihn, aber er hielt den Mund.
»Verdammt! Hier ist nichts drin, womit wir anstoßen könnten«, murmelte Connors, während er den Inhalt des Kühlschranks musterte.
»Ist kein Orangensaft da?« fragte Joanna.
»Doch. Noch ein halber Liter.«
»Dann nehmen wir den«, sagte Jamie.
»Orangensaft?«
»Tun wir so, als ob Wodka drin wäre.«
Sie stießen also mit Orangensaft an. Auf Ilona und Joanna.