Der supraleitende Draht erzeugte ein starkes Magnetfeld um den Sturmkeller herum, das ausreichte, um die Elektronen in der Partikelwolke abzulenken, die an dem Raumschiff vorbeizog. Die eigentliche Gefahr ging von den schwereren Protonen aus, und um diese abzulenken, war das Magnetfeld auch nicht annähernd stark genug.
Zu den Schutzvorrichtungen des Schiffes gehörte daher auch eine Reihe von Elektronenkanonen, welche die äußere Hülle des Raumschiffs mit mehreren Millionen Volt aufluden. Theoretisch sollten die herannahenden Protonen durch diese positive Megavolt-Ladung von dem Raumschiff abgelenkt werden, während das Magnetfeld des Schiffes die Elektronen daran hindern würde, die Hülle zu erreichen und die positive Ladung zu neutralisieren.
Kleine Versionen des Systems waren in Satelliten getestet worden, die man in eine Umlaufbahn um die Sonne gebracht hatte. Unbemannten Satelliten.
»Wie lange müssen wir denn hier drin bleiben?« fragte Ilona Malater. Sie saß zwischen Tony Reed und dem griechischen Biologen des Ersatzteams, Dennis Xenophanes. Ihre langen Finger umklammerten den Rand der Bank so fest, daß ihre Knöchel weiß waren.
»Zwölf Stunden oder mehr«, antwortete Ollie Zieman, der amerikanische Astronaut, Connors’ Ersatzmann. »Vielleicht ein paar Tage.«
»Mein Gott!«
»Nicht so schlimm«, erwiderte Zieman beinahe jovial. »Der Strahlungspegel hier drin ist praktisch normal.«
Der Schutzraum wirkte schon jetzt überfüllt; in der Luft lag der Geruch von Angst. Jamie lehnte sich mit dem Rücken ans Schott und fragte sich, ob das Magnetfeld, das von den supraleitenden Drähten nur ein paar Zentimeter von seinem Fleisch entfernt erzeugt wurde, wirklich keine Auswirkungen auf ihre Körper hatte. Den Konstrukteuren des Systems zufolge war das Feld so geformt, daß es den Sturmkeller nicht berührte; das Feld erstreckte sich außen in alle Richtungen, aber der Schutzraum selbst war wie eine Blase in seiner Mitte.
Wosnesenski und sein Ersatzmann, Dimitri Iwschenko, standen vor der Kommunikationskonsole, die in das vordere Schott des Schutzraums neben der Luke eingebaut war. Mikhail hatte sich einen Kopfhörer über die lockigen Haare geklemmt.
»Mit Funkverbindungen ist es schwierig«, verkündete Wosnesenski laut, damit jeder es hörte, obwohl er ihnen weiterhin den Rücken zukehrte. »Wir werden das Lasersystem benutzen.«
Ein magnetischer Sturm konnte Funkwellen stören, wie Jamie wußte, aber den Lichtstrahl eines Lasers würde er nicht beeinträchtigen. Obwohl sie für solche Notfälle trainiert hatten, spürte er eine Enge in seiner Brust – Nervosität. Es gibt eine quasi unendliche Anzahl subatomarer Partikel da drau
ßen, die es kaum erwarten können, hier herein zu kommen und uns alle zwölf umzubringen, dachte er. Wie eine Wolke von Geistern der Toten, die raunend draußen an der Tür kratzen.
»Auf der Mars 2 ist alles in Ordnung«, erklärte Wosnesenski.
»Alle im Sturmkeller, keine Probleme.«
Sie haben einen Mann mehr, dachte Jamie. Mit Dr. Li sind es dreizehn, die sich in den Schutzraum zwängen müssen.
Pete Connors stand auf und trat zwischen Wosnesenski und den anderen Russen. »Arbeiten alle Systeme des Schiffes?«
fragte er laut.
»Ja, ja.« Wosnesenski zeigte auf die Tafeln mit den Lämpchen, die den Zustand des restlichen Schiffes anzeigten. Die meisten Lichter waren grün. »Die Geräte sind so konstruiert, daß sie der Strahlung standhalten. Nur wir zerbrechlichen Geschöpfe aus Fleisch und Knochen brauchen Schutz.«
Ein richtiger Sonnenschein, der Mann, dachte Jamie.
Vierzehn Stunden später war der Strahlungspegel außerhalb des Schutzraums immer noch nicht merklich gesunken. Jamie saß in sich zusammengesunken auf der Bank an der Wand des Abteils und hatte eine Weile gedöst. Joanna und die polnische Biochemikerin – Ilonas Ersatzfrau – hatten genug Platz auf der Bank gegenüber gefunden, um sich zusammenzukuscheln und zu schlafen. In die Wände über den Bänken waren herausklappbare Liegen eingebaut, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie herunterzulassen.
Jamie schaute sich mit verschwommenem Blick um und sah, daß alle vier Piloten aufrecht in der Nähe der Luke und der Kommunikationskonsole saßen. Die Lichter am Weihnachtsbaum der Überwachungstafeln waren immer noch größtenteils grün, obwohl es mehr rote gab als zuvor. Am anderen Ende des Abteils, wo Speisen- und Getränkespender in die Rückwand eingebaut waren, schwatzte Tony Reed freundschaftlich mit Ilona und dem australischen Geologen, O’Hara.
Jamie rappelte sich auf. Sein Körper fühlte sich steif an, und er hatte Watte im Kopf. Der rothaarige, grobknochige O’Hara war so groß, daß er sich ein wenig bücken mußte, wenn er nicht genau in der Mitte des Abteils stand. Sonst stieß er mit dem Kopf an die gekrümmten Deckenpaneele. Er machte einen ganz netten Eindruck. Jamie hatte bei ihm keine Spur von Eifersucht angesichts der Tatsache entdeckt, daß er an Bord des Schiffes bleiben mußte, während Jamie auf dem Mars landen würde.
»…in Coober Pedy leben die Bergarbeiter fast das ganze Jahr unter der Erde«, sagte O’Hara gerade. »Es ist so höllisch heiß da, daß man nicht auf der Oberfläche leben kann. Deshalb haben sie eine ganze Stadt in die Schächte und Stollen gebaut.
Mit Swimming Pools und allem.«
Ilona war nicht beeindruckt. »Wie lange müssen wir noch hier drin bleiben?«
»Ich weiß gar nicht, weshalb du so wild darauf bist, hier herauszukommen«, sagte Tony. »Das ist momentan der beste Aufenthaltsort im ganzen Sonnensystem.«
»Bis auf die Erde«, sagte Jamie.
»Tja, allerdings«, gab Reed zu. »Aber wir können nicht alles haben, stimmt’s?«
»Erinnert mich dran, wie ich mal in ‘nem Flugzeug festsaß«, sagte O’Hara und grinste auf Ilona herunter. »Vor ein paar Jahren haben sie uns auf dem Flughafen von Washington kommentarlos über die Gangway geschleust und fünf Stunden in der Maschine warten lassen, bevor wir starten konnten: irgendein mechanisches Problem, das sie erst mal in aller Ruhe beseitigt haben. Wir haben den ganzen Fusel an Bord ausgetrunken, und als der alle war, hatten wir uns immer noch keinen Zentimeter bewegt. Als wir dann endlich gestartet sind, war die Maschine wirklich das reinste Irrenhaus.«
»Ich komme mir auch wie im Irrenhaus vor«, sagte Ilona leise. »Wie in der Gummizelle.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Tony in seiner besten britischen Kopfhoch-Manier. Aber für Jamie wirkte er angespannt und verkrampft, und sein Lächeln war gequält.
»Wie lange dauert es noch?« ertönte Joannas schlaftrunkene Stimme hinter Jamie.
Es war eine rhetorische Frage. Sie drängte sich an ihnen vorbei und ging aufs Klo.
»Schon mal drüber nachgedacht, warum sie das Pissoir immer neben ‘s Waschbecken bauen?« fragte O’Hara niemanden im besonderen.
»Wegen der Rohrleitungen«, sagte Jamie.
»Oder wegen der Wiederaufbereitung?« schlug Reed vor.
Jamie ging durch das ganze Abteil, um sich die Beine zu vertreten und seinen Kreislauf in Gang zu bekommen, aber auch, um zu den Piloten bei der Kommunikationskonsole und den Gerätemonitoren zu gelangen. Katrin Diels, die deutsche Physikerin, hatte sich einen Kopfhörer auf die blonden Locken gesetzt und war in ein ernstes Gespräch vertieft.
»Wann hat die Intensität den Höchstwert erreicht?« fragte sie in das winzige Mikrofon vor ihren Lippen.
Jamie lächelte beinahe über den Feuereifer auf ihrem stupsnasigen, sommersprossigen Gesicht. Sie war zierlich gebaut und so butterblond und blauäugig wie die Menschen auf einem Reiseplakat, das für das Oktoberfest warb. Die Piloten hatten ihr Platz gemacht, und sie saß am Ende der Bank, wo sie die Kommunikationskonsole bedienen konnte.