Sliwa zog die Schultern hoch. Wosnesenski funkelte den Polen an.
Iwschenko warf einen Blick auf seinen Landsmann, dann sagte er: »Die russische Föderation hat für dieses Privileg, die Teamleiter stellen zu dürfen, einige Opfer gebracht. Kein russischer Wissenschaftler ist für das Bodenteam ausgewählt worden, obwohl wir viele Männer – und Frauen – haben, die auf den Fachgebieten der Planetologie hoch qualifiziert sind.«
»Bei den Staaten ist es das gleiche«, fügte Connors hinzu.
»Wir haben Astronauten in allen vier Teams, aber keine Wissenschaftler in den Bodenteams, bis auf Jamie hier.«
Sie drehten sich alle zu Jamie um, der sich zwang, den Mund zu halten. Ich bin durch Zufall hier, sagte er sich. Das wissen sie alle. Und in den Staaten bin ich nur ein halber Amerikaner, wie man es auch betrachtet.
»Vielleicht sollten wir das Thema wechseln«, schlug Reed vor. »Diese Art von Diskussion bringt überhaupt nichts.«
Jamie war versucht, Reed um eine Erklärung zu bitten, wie er triebdämpfende Mittel in ihr Essen und Trinken schmuggeln konnte. Aber er überlegte es sich anders. Es hatte keinen Sinn, einen richtigen Streit vom Zaun zu brechen, sagte er sich.
Deshalb schwieg er, während die anderen einander anstarrten und offenbar kein neues Diskussionsthema finden konnten oder wollten.
»Also dann, vielleicht sollten wir ein bißchen schlafen«, sagte Reed.
Wosnesenski nickte eifrig. »Ja. Eine gute Idee. In etwa zehn Stunden müßten die Strahlungspegel wieder so niedrig sein, daß wir diesen Schutzraum verlassen können. Dann müssen wir die Schiffssysteme und unsere gesamte Ausrüstung gründlich überprüfen, um festzustellen, welchen Schaden der Sturm angerichtet hat, und ihn dann reparieren. Wir sollten jetzt wirklich schlafen.«
Es war ein Befehl, kein Vorschlag. Niemand widersprach, nicht einmal Ilona.
SOL 8
Jamie und Wosnesenski waren aufgebrochen, sobald sie im morgendlichen Sonnenlicht ihre Umgebung sehen konnten.
Den gesamten vorherigen Tag hatten sie den Rover abwechselnd mit halsbrecherischem Tempo durch die unebenen, zerklüfteten Badlands gejagt, Richtung Nordosten, weg von den Verwerfungsschluchten von Noctis Labyrinthus, weg von ihrem Basislager. Halsbrecherisches Tempo hieß bei dem Rover nicht ganz vierzig Stundenkilometer – etwa soviel wie die Höchstgeschwindigkeit im Bereich einer Schule.
Trotzdem waren sie erschöpft, als die Sonne schließlich hinter dem zerklüfteten Horizont in ihrem Rücken untergegangen war und die dunklen, kalten Schatten der Nacht ihr Fahrzeug eingeholt hatten. Zwei Tage ununterbrochenen Fahrens mit häufigen Umwegen um Gebirgskämme oder Spalten, die zu steil oder zu tief waren, als daß man sie auf direktem Wege hätte überwinden können, hatten sie körperlich und emotional entkräftet. In mürrischem Schweigen nahmen sie ein spärliches Abendessen ein; dann setzte sich Wosnesenski mit Dr. Li und dem Basislager in Verbindung. In der Basis lief alles reibungslos, und zu Jamies fortgesetzter Überraschung und Freude gab Li ihnen immer noch nicht die Anweisung, umzukehren und zum Lager mit der Kuppel zurückzufahren.
»Die Flugkontrolleure haben kein Veto gegen unsere Exkursion eingelegt«, sagte Jamie und lehnte sich auf der Bank zurück, die sich später zu seiner Liege ausklappen lassen würde.
Wosnesenski saß ihm an dem schmalen Klapptisch gegenüber.
»Noch nicht«, sagte der Kosmonaut wie ein Delinquent, der darauf wartet, daß das Beil herabsaust.
Jamie verspürte ein Gefühl zwischen Schuldbewußtsein und Verlegenheit. »Tut mir leid, daß ich in der Sache über Ihren Kopf hinweggehen mußte«, sagte er.
Wosnesenski hob die massigen Schultern. »Es war Ihr Recht, das zu tun.« Er schaute Jamie in die Augen und fügte hinzu:
»Meine Aufgabe war es, am Missionsplan festzuhalten, bis man ihn höheren Ortes ändern würde. Ich habe nur meine Pflicht getan. Ich habe mich nicht aus persönlichen Gründen dagegen ausgesprochen.«
Eine Ranke der Erleichterung schlängelte sich an Jamies Rückgrat empor. »Dann sind Sie nicht verärgert?«
»Warum sollte ich? Glauben Sie, ihr Wissenschaftler habt ein Monopol auf Neugier?«
Jamie lächelte breit. »Na prima! Ich hatte schon Angst, ich hätte es mir mit Ihnen verdorben.«
Der Russe grinste zurück. »Nein. Als Doktor Li die Verantwortung übernommen und diese Änderung der Exkursion genehmigt hat, waren meine Einwände vom Tisch. Ich möchte diesen Grand Canyon auch gern sehen.«
Jamie schlief tief und fest, träumte von Mesa Verde und seinem Großvater.
Nach ihrer dritten Nacht im Rover erwachten sie im ersten gespenstischen Morgengrauen, einer ganz schwachen, blaßrosa Aufhellung des Himmels über dem flachen östlichen Horizont. Jamie zog den Overall über seinen Slip, baute dann den Klapptisch zwischen ihren Liegen auf und stellte zwei Portionen Fertigfrühstück in die Mikrowelle, während Wosnesenski auf dem Klo saß. Der Russe, der schon seinen braunen Overall und die weichen Pantoffelsocken trug, löffelte den dampfenden Haferschleim in sich hinein, während Jamie in die Toilettenzelle ging.
Als Jamie sich gerade wusch, hörte er Wosnesenski rufen:
»Jamie! Schauen Sie sich das an!«
Er tauchte gebückt aus dem kleinen Raum und sah, daß Wosnesenski vorn im Cockpit war. Er zwängte sich am Tisch vorbei und gesellte sich zu ihm.
Wosnesenski hatte den Thermovorhang zurückgezogen. Das gewölbte Dach der Plastglas-Kanzel funkelte von glitzernden kleinen Lichtpunkten, die wie Glühwürmchen aufleuchteten und erloschen.
»Tautropfen«, sagte Wosnesenski. »Morgentau.«
»Er kondensiert am Glas.« Jamie streckte die Finger aus und berührte die Kuppel. Innen war sie kalt, aber trocken. Noch während er hinsah, erschienen weitere winzige Tröpfchen und vergingen sofort wieder, verdunsteten vor seinen Augen, verschwanden so schnell, daß er sie gar nicht gesehen hätte, wenn andere nicht kurz aufgeschimmert wären. Wie winzige Diamanten funkelten sie einen Herzschlag lang und waren dann wieder verschwunden. Nach ein paar Minuten hörte es auf. Jamie wurde bewußt, daß er nie etwas von ihren Existenz geahnt hätte, hätte er sie nicht mit eigenen Augen gesehen. Mikhail hatte sie genau im richtigen Moment erblickt.
»Hier ist Feuchtigkeit in der Luft«, sagte der Russe. »Zumindest ein bißchen.«
»Frost«, murmelte Jamie. »Müssen Eispartikel sein, die sich nachts in der Luft bilden. Sie sind auf der warmen Fläche geschmolzen…«
»Und sofort verdunstet.«
»Woher kommt die Feuchtigkeit?« fragte Jamie. Er wandte sich an den Russen. »Mikhail, wie weit sind wir noch vom Canyon entfernt?«
»Eine Stunde Fahrtzeit, vielleicht ein bißchen mehr.«
Wosnesenski glitt auf den Fahrersitz und rief eine Karte auf, die sofort auf dem Bildschirm in der Mitte der Kontrolltafel erschien. »Ja, ungefähr eine Stunde.«
»Dann lassen Sie uns aufbrechen! Sofort! Ich fahre.«
» Ich fahre«, sagte Wosnesenski fest. »Sie sind zu aufgeregt.
Sie würden wie ein Cowboy fahren, nicht wie ein Indianer.«
Dann kicherte er tief in der Kehle über seinen eigenen Witz.
Jamie sah den Russen mit zusammengekniffenen Augen an.
Humor bei Mikhail? Das ist noch seltener als Morgentau auf dem Mars.
Jetzt schwankte und schlingerte der Rover zwischen Felsbrocken hindurch und über Bodenwellen hinweg; Wosnesenski konzentrierte sich voll und ganz aufs Fahren. Er gab Vollgas, und das segmentierte Fahrzeug raste mit Höchstgeschwindigkeit durch die rostige Wüste. Für Jamie, der rechts neben Wosnesenski saß, war der Rover eine große Raupe aus Metall, die langsam durch die Marslandschaft kroch. Der staubige rote Boden war wie überall mit Steinen übersät, obwohl es hier viel weniger Krater zu geben schien als weiter westlich. Hier und dort lagen hausgroße Felsblöcke, und Jamie juckte es in den Fingern, auszusteigen und sie zu untersuchen.