»Ich werde nicht zulassen, daß Jamie zu einem Indianer gemacht wird«, sagte Lucille fest.
Al lachte schallend los, eine Reaktion, die Jamie oft bei ihm gesehen hatte – in seinem Laden, wenn er einen Moment brauchte, um seine Gedanken zu sortieren, bevor er eine schwierige Frage beantwortete.
»Was denkst du denn, Lucy? Glaubst du, ich will, daß er in einem Laden arbeitet und Touristen aus Beverly Hills oder New York bedient? Glaubst du, ich will, daß er sein Leben in einem albernen Pueblo vergeudet, Schafe züchtet und für den Rest seines Lebens Bier trinkt?«
»Der Junge hat eine wissenschaftliche Begabung«, sagte Jerry.
»Dann soll er ein naturwissenschaftliches Fach studieren! In Albuquerque gibt es hervorragende Wissenschaftler. Alle Arten von Geologen und was weiß ich nicht alles.«
Geologie. Jamie hatte lange Stunden damit verbracht, in den trockenen Hügeln und Arroyos Steine zu sammeln. Al hatte ihn nach Colorado mitgenommen und ihm die Felsenbauten auf der Mesa Verde gezeigt, er war mit ihm nach Arizona zum Grand Canyon und dem großen Meteoritenkrater gefahren.
»Einige der besten Wissenschaftler der Welt sind in Berkeley«, sagte Lucille steif. »Allein im Fachbereich Physik…«
Al unterbrach sie. »Zum Teufel, wir reden hier über die Zukunft des Jungen, als ob er gar nicht anwesend wäre. Jamie!
Was meinst du zu all dem? Was hast du dazu zu sagen?«
Jamie erinnerte sich an den Grand Canyon. Diese gewaltige Schlucht, die sich in die Erde gefressen hatte. Die Farben der verschiedenen Felsschichten, eine nach der anderen. Die ganze Weltgeschichte war auf diese Felsen gemalt, eine Geschichte, die viel, viel weiter zurückreichte als bis zu den Anfängen menschlichen Lebens.
»Geologie finde ich gut«, sagte er. »Ich würde gern Geologie studieren, glaube ich.«
Über eine Stunde war vergangen, seit sie losgefahren waren.
Jamie betastete den Bärenfetisch in der Tasche seines Overalls, während der Rover eine Bodenwelle hinaufkletterte. Mühsam arbeitete er sich den immer steiler werdenden Hang empor, der mit kleinen Steinbrocken und Kieseln übersät war. Der rote Boden wirkte sandig und bröckelig. Jamie lauschte dem gequälten Wimmern der Elektromotoren, die jedes Rad einzeln antrieben.
Wosnesenski bremste das Fahrzeug ab, bis es nur noch dahinkroch. Jamie schaute nach vorn. Er sah nur den herannahenden Kamm und den rosafarbenen Himmel dahinter. Keine Wolke an diesem Himmel; er war so klar und leer wie der tiefblaue Himmel von New Mexico.
»Können wir nicht schneller fahren?« drängte Jamie.
»Die Feuchtigkeit wird schon ganz aus der Luft weggebrannt sein, wenn wir…«
Wosnesenski trat abrupt auf die Bremse. Jamie flog nach vorn und streckte reflexartig die Hände zur Kontrolltafel aus.
Er setzte dazu an, sich zu beschweren, dann starrte er mit offenem Mund auf die Szenerie draußen vor der Plastglaskanzel.
»Wir sind da«, sagte Wosnesenski.
Was Jamie für den Kamm einer Bodenwelle gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Rand des Canyons. Dahinter tat sich eine gewaltige, endlose, gähnende Leere auf. Sie standen hart am Rand einer Klippe, die Kilometer um Kilometer senkrecht abfiel. Noch ein oder zwei Meter, und der Rover wäre über die Kante gekippt und in die Tiefe gestürzt.
»Jesus Christus«, hauchte Jamie.
Wosnesenski grunzte.
Jamie erhob sich aus seinem Sitz und schaute so weit in diesen ungeheuerlichen Abgrund namens Tithonium Chasma hinunter, wie er konnte. Er war schwindelerregend, und bei dem Gedanken, daß diese gigantische Spalte nur ein Arm der Valles Marineris war, das Talsystem, das sich über mehr als dreitausend Kilometer nach Osten erstreckte, wurde ihm noch schwummriger zumute.
Dann spürte er, wie sich das Herz in seiner Brust zusammenkrampfte. »Mikhail – er ist da. Der Nebel…«
Zarte, federartige graue Wolken wehten durch die riesige Schlucht, wie ein geisterhafter Fluß, der lautlos unter ihnen vorbeiströmte.
»Das Sonnenlicht reicht noch nicht so tief in die Schlucht hinunter«, sagte Wosnesenski.
»Ja.« Jamie schob sich aus seinem Sitz hoch und machte sich auf den Weg zur Luftschleuse und zu den Raumanzügen.
»Kommen Sie, wir müssen das auf Band kriegen, bevor die Wolken verdunsten. Da unten gibt es Feuchtigkeit, Mikhail!
Wasser!«
»Eispartikel«, sagte der Russe. Er folgte Jamie zum Spind mit den Anzügen.
»Sie schmelzen zu flüssigem Wasser.«
»Und verdunsten.«
»Und bilden sich in der nächsten Nacht von neuem.« Jamie zwängte sich in die untere Hälfte seines Anzugs. »Die Feuchtigkeit verschwindet nicht. Sie bleibt im Tal – zumindest für eine Weile.«
Er hatte seinen Anzug noch nie so schnell angezogen. Nach der unteren Hälfte kamen die Stiefel (so war es viel einfacher), dann das Oberteil, zum Schluß der Helm. Wosnesenski half ihm, seinen Tornister anzulegen, und überprüfte alle Verschlüsse und Verbindungen, während Jamie herumzappelte wie ein Hühnerhund, der die Fährte aufgenommen hat.
Als er sich die Videokamera schnappte, sagte Wosnesenski streng: »Handschuhe! Schalten Sie Ihren Kopf ein, bevor Sie nach draußen gehen. Ganz gleich, wie aufgeregt Sie sind – gehen Sie erst die Checkliste durch.«
»Danke«, sagte Jamie. Er kam sich töricht vor.
Wosnesenski stülpte sich den Helm über den Kopf und arretierte die Halsverschlüsse. »Je aufgeregter Sie sind, um so mehr müssen Sie sich zwingen, innezuhalten und die Checkliste Punkt für Punkt durchzugehen.«
»Sie haben recht«, sagte Jamie ungeduldig.
Der Russe grinste ihn an wie ein vierschrötiger Bär, der die Zähne fletscht. »Wenn Sie sich hier umbringen, bekomme ich große Schwierigkeiten mit Doktor Li und den Flugkontrolleuren in Kaliningrad.«
Jamie merkte, daß er das Grinsen erwiderte. »Das möchte ich Ihnen wirklich nicht antun, Mikhail.«
»Gut. Jetzt können wir rausgehen.«
›Canyon‹ war keine angemessene Bezeichnung. Jamie konnte die andere Seite nicht sehen; sie lag hinter dem Horizont. Der Abgrund namens Tithonium Chasma war so gewaltig, so eindrucksvoll, daß Jamie anfangs nur durch sein getöntes Visier hinausstarrte, benommen vor Erregung und einem überwältigenden Gefühl der Ehrfurcht.
Unwillkürlich formten sich Worte aus seiner längst vergessenen Kindheit in seinem Kopf: Dies sind die Worte der sich wandelnden Frau, Weisheit schenkte sie den Heiligen Leuten: Das einzige Ziel für einen Menschen ist Schönheit und Schönheit ist nur in der Harmonie zu finden.
»Die Kamera.« Er hörte Wosnesenskis Stimme in seinem Helmkopfhörer. »Das Sonnenlicht beginnt den Nebel aufzulösen.«
Jamie schüttelte sich in seinem Raumanzug und machte sich an die Arbeit. Er schwenkte die Videokamera über das Tal hin und her, dann vom Rand der Klippe, auf der sie standen, hinaus zu dem nebelverhangenen Horizont. Überall, wo die Wolken von der Sonne berührt wurden, verdunsteten sie und lösten sich auf. Wie in den alten Mythen von Geistern, die verschwinden, wenn die Sonne aufgeht, sagte sich Jamie.
»Wenn das hier ein ›Tal‹ ist«, murmelte er, während er die Kamera bediente, »dann ist der Pazifik wirklich nicht mehr als ein großer Teich.«
Wosnesenski sagte: »Wenn Sie hier eine Weile ohne mich zurechtkommen, stelle ich eine Sensor-Einheit auf.«
»Ich komme schon klar«, antwortete Jamie. »Bei mir ist alles okay.«
Stundenlang sah er zu, wie die Nebelschleier sich auflösten, als die blasse Sonne am rosafarbenen Himmel höher stieg. Unten in den tiefsten Winkeln der Felsen muß es Stellen geben, wo der Nebel haftenbleibt, wohin das Sonnenlicht nicht gelangt, sagte sich Jamie. Kleine Oasen, wo es Tröpfchen flüssigen Wassers gibt und die Sonnenwärme die Felsen aufheizt.