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Kleine Taschen, wo sich das Leben halten könnte.

Gegen Mittag hatte er drei Videokassetten verbraucht und steckte eine vierte in die Kamera. Die Nebelschleier waren nun beinahe vollständig verschwunden, und die Felsformationen erstreckten sich von seinem Standort aus wie stolze alte Festungen nach links und rechts. Die Talsohle war so tief unten, daß er nur ihren fernen Teil sehen konnte, der sich über den Horizont hinaus krümmte. In den Felsen dort unten hingen immer noch neblige Schatten.

»Sie sind differenziert, Mikhail«, sagte Jamie in sein Helmmikrofon. »Die Felswände hier sind geschichtet. Hier hat es einmal ein Meer oder vielleicht auch einen gewaltigen Fluß gegeben. Schauen Sie sich die Schichten an.«

Wosnesenski, der wieder neben ihm stand, sagte: »Die Felsen sind alle rot.«

Jamie lachte. »Und auf der Erde sind alle Bäume grün. Aber es gibt verschiedene Schattierungen, Mikhail.«

Er zeigte mit einer behandschuhten Hand an der Linie der Klippen entlang. »Schauen Sie, dort. Sehen Sie, die oberste Schicht ist vertikal frakturiert und ziemlich stark verwittert.

Aber die Schicht darunter ist glatter und viel dunkler gefärbt.«

»Ah ja«, sagte Wosnesenski. »Jetzt sehe ich’s.«

»Und die Schicht unter dieser ist mit gelblichen Intrusionen gestreift. Vielleicht Bauxit oder so etwas. Dieses Gebiet muß vor langer Zeit einmal viel wärmer gewesen sein.«

»Meinen Sie? Warum?«

Jamie setzte zu einer Antwort an und merkte dann, daß er sich dem Wunschdenken hingab. »Gute Frage, Mikhail. Ich mache noch einen Wissenschaftler aus ihnen.«

Er hörte das tiefe Glucksen des Russen. »Das wohl kaum.«

Jamie blinzelte in die Sonne. »Bauen wir die Winde auf. Ich möchte…«

»Nicht da hinunter!«

»Nur die ersten drei Schichten«, sagte Jamie. »Ich weiß, daß wir nicht bis zum Boden hinunterkommen, nicht einmal annähernd. Aber ich kann zumindest die Schicht mit den gelblichen Intrusionen erreichen. Kommen Sie, die Sonne fängt schon an, diese Seite zu bescheinen.«

»Kein Mittagessen?«

»Sie können essen, wenn die Winde aufgebaut ist. Ich bin zu aufgeregt zum Essen.«

Auf seine phlegmatische, unbewegliche Weise bestand Wosnesenski darauf, daß sie beide aßen, bevor sie die Winde und das Klettergeschirr herausholten.

»Ernährung ist wichtig«, beharrte der Russe. »Viele Fehler werden aufgrund von Hunger begangen.«

Jamie mußte unwillkürlich grinsen. »Sie klingen wie ein Werbespot für Bran Flakes, Mikhail.«

»Bran Flakes? Soll das was zum Essen sein? Babynahrung oder was?«

Jamie lachte.

Keiner von beiden machte sich die Mühe, mehr als Helm und Handschuhe abzulegen, als sie im Rover waren. Sie hockten sich in ihren schwerfälligen Anzügen auf den Rand ihrer einander gegenüberstehenden, halb eingeklappten Liegen und aßen jeder eine warme Mahlzeit. Wosnesenski holte dann die Flasche mit Vitaminpräparaten aus ihrem kleinen Arzneischränkchen.

»Haben wir beim Frühstück vergessen«, sagte er und reichte Jamie die Flasche.

»Stimmt.« Jamie schüttelte eine der orangefarbenen Pillen heraus. »Darf ich dann auch Familie Feuerstein sehen?«

Wosnesenski runzelte verblüfft die Stirn. »Das ist kein Scherz. In unserer Kost sind viel zu wenig Vitamine; wir bekommen kein Sonnenlicht auf die Haut. Die Ergänzungspräparate sind notwendig.«

»Außerdem steht es in den Missionsvorschriften«, scherzte Jamie.

Er steckte die Pille in den Mund und spülte sie mit dem letzten Schluck Kaffee in seinem Becher hinunter. Gott, was gäbe ich für eine Tasse echten Kaffee statt dieser Pulverplörre!

Dann sah er, daß das Sonnenlicht bereits schräg durch das Kanzeldach des Cockpits in den Rover fiel.

»Kommen Sie, Mikhail, wir verschwenden Zeit.«

Sie brauchten alle vier Hände, um das Gurtgeschirr über Jamies Tornister und durch seinen Schritt zu ziehen und es dann über der Brust festzuzurren. Während der Russe an der Winde Wache hielt, ließ Jamie sich vorsichtig an der steilen Felswand der Klippe hinab. Tief, tief unten hingen noch ein paar hartnäckige Nebelfäden an den Felsen, grau und geisterhaft, hoben und senkten sich langsam wie lange Meereswellen oder die Brust eines schlafenden Riesen.

Die gegenüberliegende Wand des Canyons war nicht zu sehen, lag hinter dem Horizont. Statt des Gefühls, in einer Falle zu sitzen, das ihm im Noctis Labyrinthus zu schaffen gemacht hatte, kam es Jamie nun so vor, als stiege er an der Felswand einer heimatlichen Mesa ab. Der größten Mesa, die je ein Mensch gesehen hat, sagte er sich, als er zwischen seinen frei in der Luft hängenden Füßen hindurch zu dem kilometerweit unter ihm liegenden Boden hinunterschaute.

Wenn wir hier in New Mexico wären, läge die andere Seite dieses Canyons in Neufundland.

Jamie mußte sich bewußt zwingen, seine Aufmerksamkeit auf das Abschlagen von Steinproben zu konzentrieren. Trotzdem dachte er über die Welt auf dem Grund der größten Schlucht des Sonnensystems nach, während er im Geschirr baumelnd mit seiner Arbeit begann. Wir haben nicht damit gerechnet, daß es im Sommer Nebel geben würde, haben nicht geglaubt, daß dafür genug Feuchtigkeit in der Luft wäre. Unten im Hellas-Becken, ja. Aber hier nicht. Ich wünschte, wir hätten Proben von dem Zeug nehmen können. Vielleicht sind es Eiskristalle. Aber es sieht nicht wie Eisnebel aus. Andererseits, woran soll man das erkennen? Hier herrschen andere Gesetze, oder zumindest andere Bedingungen. Im Bodenbereich des Canyons muß es ein ganz anderes Ökosystem geben als jenes, das wir an der Oberfläche sehen. Vielleicht ist die Luft da unten dichter. Feuchter. Wärmer. Vielleicht gibt es da unten Leben, das sich in warmen kleinen Nischen verbirgt –

wie unsere Vorfahren, die in Höhlen gehaust haben.

Hier hätten wir unser Basislager aufschlagen sollen, nicht auf dieser langweiligen Ebene. Dann hätten wir unsere Zeit damit verbringen können, den Canyon zu erforschen. Diese alte Furche im Boden hat uns mehr zu erzählen als jeder andere Ort auf dem Mars.

Jamie, der in seinem Geschirr ein paar Meter unterhalb des Randes der Schlucht und viele Kilometer über ihrem dunstigen Grund schwebte, war froh darüber, daß diese Felswände sich grundlegend von denen in den Badlands von Noctis Labyrinthus unterschieden. Dort hatten sie aus einem einheitlichen Stück eisenroten Steins bestanden. Hier waren sie geschichtet, Lage um Lage, so verwittert und gefurcht wie die Mesas daheim, informative Seiten eines versteinerten Buches, das demjenigen, der die Fähigkeit und die Geduld besaß, es zu lesen, die ganze Geschichte dieser Welt erzählte.

Die oberste Schicht der Felswand, unmittelbar unter der überlagernden Gesteinsschicht, war beinahe weich gewesen, das Gestein bröckelig, leicht loszubrechen. Auf der Erde wäre es von Wind und Regen im geologischen Handumdrehen abgetragen worden. Aber hier auf dem trockenen, ruhigen, sanften Mars konnte es äonenlang ungestört bleiben, wo es war; nur die langsame Erosion durch die Sonnenwärme und die nächtliche Kälte würde es irgendwann zerbrechen. Trotzdem gab es kein Wasser in dieser Schicht, darauf wäre Jamie jede Wette eingegangen. Nicht einmal Permafrost. Sonst hätte die Ausdehnung und Kontraktion des Wassers im Verlauf des Tag-und-Nacht-Zyklus einen solch krümeligen Stein sehr rasch zerbröselt.

Die nächste Schicht bestand aus viel härterem Gestein von dunklerem Rot. Mehr Eisen, vermutete Jamie. Shergottit, wie der Meteorit, den ich in der Antarktis gefunden habe.

Jamie machte sich mit seinem Handpickel ans Werk, bis er mehrere lose Steinchen in der freien Hand hatte. Splitter und abgeschlagene Stücke fielen rasselnd in die Tiefe, fielen außer Sicht und außer Hörweite, hinunter zum Grund des Canyons so weit unten. Als Jamie die Gesteinsproben in einen Sammelbeutel gleiten ließ, merkte er, daß er von der Anstrengung schweißüberströmt war. Das Gebläse des Anzugs zischte; es klang, als wäre es wütend auf ihn, weil er ihm derart zusetzte.