Nicht jeder, dachte Jamie. Dann hörte er sich sagen: »Da ist noch etwas. Ich möchte, daß der Plan geändert wird, so daß wir vor unserem Abflug noch einmal zum Tithonium Chasma fahren können. Sonst wird nichts aus der Abmachung.«
Alberto Brumado blieb der Mund offenstehen. Er war es gewöhnt, von den Politikern, ja sogar von den Akademikern, die an den Universitäten das Sagen hatten, mit Forderungen und Gegenforderungen konfrontiert zu werden. Aber daß ihn dieser junge Spund von einem Wissenschaftler nun auf solche Weise erpreßte, war ein ziemlicher Schock für ihn.
»Den Missionsplan ändern? Aber das ist absolut unmöglich.«
Er beobachtete Watermans gleichmütiges, breitwangiges Gesicht, während seine Worte mit Lichtgeschwindigkeit zum Mars rasten. Es schien ewig zu dauern.
Schließlich erwiderte Waterman: »Entweder wir fahren noch einmal zum Tithonium Chasma und schauen uns diese Gesteinsformation genau an, oder die Abmachung ist null und nichtig. Ich weiß, die Vizepräsidentin wird verlangen, daß ich aus dem Bodenteam abgezogen werde und daß O’Hara für mich herunterkommt. Okay. Wenn sie das tut, veranstalte ich ein Riesengeschrei, sobald wir wieder auf der Erde sind. Ich werde den Medien erzählen, daß ich aus dem Bodenteam abgezogen wurde, weil ich ein amerikanischer Ureinwohner bin und sie gegen die vollen politischen Rechte für ethnische Minderheiten ist.«
Brumado merkte, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat. »Sie bringen mich – und die gesamte Administration des Projekts –
in eine äußerst schwierige Lage.«
Als Watermans Antwort kam, lautete sie: »Das läßt sich nicht ändern. Die Sache ist wichtig, viel wichtiger als die Frage, wer nächstes Jahr gewählt wird. Wir müssen noch einmal zu dem Canyon fahren.«
»In Ordnung«, sagte Brumado widerstrebend. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Er wartete lange, lange Minuten, bevor er Jamie Waterman als Reaktion auf seine Worte lächeln sah.
Sie waren im Geschäft. Jetzt galt es, die Zustimmung der Projektadministratoren einzuholen und die Abmachung dann zusammen mit den Beratern der Vizepräsidentin in die Tat umzusetzen. Und dafür Sorge zu tragen, daß sie sich kein Hintertürchen offenhielt.
Brumado beendete seine Übertragung zum Mars und erhob sich erschöpft und nicht wenig besorgt aus seinem Sessel. Wie ein Sportler, der sein letztes Quentchen Kraft gegeben hatte und nun auf das Urteil des Punktrichters wartete. Eine weitere Expedition muß zum Mars geschickt werden. Unbedingt. Wenigstens eine. Allerwenigstens.
Er warf einen Blick auf den leeren grauen Bildschirm der Kommunikationskonsole und erkannte, daß Waterman sowohl ein Gewinn als auch eine Belastung war. Es ist ein Fehler, ihn in die politischen Ränkespiele hinter den Kulissen hineinzuziehen. Er denkt nicht politisch; ihn interessiert nur die Wissenschaft. Er brennt darauf, eine große Entdeckung auf dem Mars zu machen. So sehr, daß er alles ruinieren könnte.
Gott sei Dank konnten wir uns unter vier Augen unterhalten, sagte sich Brumado. Bei der Zeitverzögerung zwischen uns war es schwierig genug, sich auf etwas zu einigen. Es wäre unmöglich gewesen, wenn andere zugehört hätten.
Über hundertfünfzig Millionen Kilometer entfernt schaute Tony Reed nachdenklich auf den toten Bildschirm seines eigenen Laptops. Er war vom Kommunikationszentrum der Kuppel in sein Krankenrevier gegangen, hatte die Falttür zugezogen und sich sofort in Jamies Gespräch mit Brumado eingeschaltet.
Als Arzt und Psychologe des Teams habe ich Anspruch darauf, genau zu wissen, was vorgeht, hatte er sich gesagt. Zum Teufel mit der Heimlichtuerei! Sie haben kein Recht, Dinge vor mir geheimzuhalten.
Nun nahm er den Stöpsel aus dem Ohr und zog den haarfeinen Draht heraus, der ihn mit dem Computer verband. Jamie zwingt sie also, ihn zum Tithonium Chasma zurückzuschicken. Gut! Je eher er verschwindet, desto besser.
SOL 14
NACHMITTAG
Jamie war beim Mittagessen ungewöhnlich schweigsam und schlecht gelaunt gewesen, dachte Reed. Selbst für unseren stoischen roten Mann ist er reichlich still und in sich gekehrt.
Reed saß am Schreibtisch seines Krankenreviers und grübelte über Jamies Gespräch mit Brumado nach. Der Kerl ist wirklich unverschämt, dachte Tony beinahe bewundernd. Welche inneren Dämonen ihn auch immer treiben, er besitzt die Frechheit, Forderungen an Brumado persönlich zu stellen. Und an die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten.
Reed lächelte in sich hinein und dachte: Wenn ich auch nur ein bißchen Glück habe, wird er auf das Schiff im Orbit verbannt, und ich habe Joanna für mich. Es würde nicht einfach sein, aber er würde es schaffen, wenn der Kerl von der Bildfläche verschwunden war. Er spürte eine heftige Erregung bei dem Gedanken, die Kleine im Bett zu haben.
Tonlos vor sich hinsummend, tippte Reed auf seiner Tastatur und rief das Nachmittagsprogramm auf. Sechs der sieben Wissenschaftler sollten mit der Vermessung der Dicke und Ausdehnung der unterirdischen Permafrostschicht fortfahren.
Langweilige Arbeit. Toshima, der siebte, würde in der Kuppel bleiben und mit seinen meteorologischen Meßgeräten arbeiten.
Reed hatte keine Aufgaben draußen im Freien zu erfüllen; einer der Vorteile, wenn man Teamarzt ist, sagte er sich.
Tony holte sich sein persönliches Missionsprogramm auf den Computerbildschirm und sah, daß es an der Zeit für seine wöchentliche Inventur der pharmazeutischen Vorräte war. Mit einem kaum unterdrückten gelangweilten Stöhnen machte er sich daran, die Bestände an Schmerzmitteln und Vitaminen zu überprüfen. Danach waren die Muntermacher und die Beruhigungsmittel an der Reihe. Bei denen muß ich besonders aufpassen. Nicht daß mir die Leute noch drogenabhängig werden.
Pock!
Das Geräusch schreckte ihn auf. Was in aller Welt war das?
Reed spitzte die Ohren, hörte aber nichts mehr, nur das übliche Summen der Maschinen und die fernen, gedämpften Stimmen der anderen. Achselzuckend konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit.
Er ging die Schmerzmittel-Datei durch. Der Verbleib jeder Aspirintablette mußte erklärt werden. Niemand durfte sich selbst auch nur eine einzige nehmen; nur der Teamarzt konnte die Tabletten verteilen, und er mußte präzise Buch darüber führen, wer was bekommen hatte.
Vitamine nahmen sie natürlich alle. Reed zog den Kasten mit den Vitaminflaschen aus dem Gestell im Container und schleppte ihn zu seinem Schreibtisch. Vier große Flaschen mit jeweils fünfhundert Pillen. Schon eine deckte den gesamten täglichen Vitaminbedarf einer Person; zweitausend auf die Oberfläche mitzunehmen, war typischer Missions-Overkill.
Mit einem Lichtstift begann Reed, die Strichcodes zu überprüfen, die auf die Deckel der Gefäße gedruckt waren, so wie eine Kassiererin im Supermarkt die Lebensmittel eingibt. Verdammt alberne Beschäftigung, knurrte er in sich hinein. Aber wenn der Computer nicht anzeigte, daß das Inventar Flasche für Flasche überprüft worden war, würde Wosnesenski an die Decke gehen. Alle Missionsaufgaben mußten genauestens erfüllt werden, wenn es nach dem Russen ging, ganz gleich, wie belanglos oder langweilig sie waren.
Dann kam ihm plötzlich ein neuer Gedanke. Wenn Jamie seinen Kopf durchsetzt und zum Grand Canyon zurückkehrt, dann wird er Joanna wahrscheinlich mitnehmen wollen. Sie ist immerhin die Missionsbiologin. Der Teufel soll ihn holen, fauchte Reed stumm. Es muß eine Möglichkeit geben, diese unverschämte Rothaut von der brasilianischen Prinzessin zu trennen. Hoffentlich verbannen sie den Kerl in den Orbit.
Pock! Wieder das Geräusch, nur diesmal leiser. Was konnte das sein? fragte sich Reed, als er die erste Vitaminflasche aufschraubte. Ich könnte die Kapseln auch gleich in die kleineren Flaschen umfüllen, wenn ich sie eh schon heraushole. Tony schimpfte stumm über die Effizienzexperten, die die Missionslogistik geplant hatten; es war ihnen entgangen, daß diese riesigen Flaschen nicht in die Borde der Kombüse paßten. Deshalb mußte er die Vitaminkapseln per Hand in kleinere Gefäße umfüllen. So ein Schwachsinn.