Seiji Toshima hatte sich die ganzen heftigen Diskussionen zwischen Waterman und dem Rest des Teams angehört, ohne auch nur ein einziges Mal den Mund aufzumachen. Ihr Streit hatte nichts mit ihm zu tun, und er war von frühester Kindheit an darauf trainiert worden, mit seinen Meinungen hinterm Berg zu halten, sofern er nicht ausdrücklich darum gebeten wurde, sie zu äußern.
Doch jetzt bat ihn Waterman – nicht um seine Meinung, sondern um sein Wissen. Das war etwas anderes. Toshima war froh, mit dem amerikanischen Geologen Wissen austauschen zu können. Schließlich war dies der Zweck dieser Expedition zum Mars, oder nicht? Wissen zu erwerben. Und was nützt Wissen, wenn man es nicht mit anderen austauscht?
Jamie Waterman saß auf einem dünnbeinigen Plastikhocker mitten im Meteorologielabor des Japaners. Toshimas Bereich war vom Team auf den Namen ›Wetterzentrale‹ getauft worden. Es war das kleinste Labor von allen und derart aufgeräumt und picobello sauber, als ob ein Trupp Wartungsroboter es jede halbe Stunde schrubben und alles abstauben würde.
Der Raum sah wie das Schaufenster eines Elektronikladens aus. Während die Arbeitstische der anderen Wissenschaftler mit Gläsern und Meßinstrumenten übersät waren, hatte Toshima eine Reihe leise summender Computer, deren Bildschirme Diagramme und Kurven zeigten. Am Ende der Reihe, wo sie an der Ecke zur Trennwand L-förmig abknickte, stand ein Scanner, der Videoband einlesen und die Bilder zwecks Speicherung im Computer digitalisieren konnte.
Toshima saß in der anderen Ecke auf einem wacklig aussehenden Hocker. Er hatte Jamie seinen besten Hocker gegeben, den einzigen mit einer Lehne.
Seit dem Tod von Isoruku Konoye hatte Toshima das Gefühl, daß eine unerwartete Verantwortung auf seinen Schultern lastete; die Verantwortung für die Ehre Japans, dafür, den stolzen Namen seines Vaterlandes selbst hier hochzuhalten, auf dieser fremden Welt. Er wußte, daß die meisten seiner Kollegen alles Japanische heruntermachten; er sah es ihren Augen an, wenn sie mit ihm sprachen, er merkte es an der fast schon intoleranten Selbstgefälligkeit von Leuten wie Antony Reed und an der übermäßig beflissenen Höflichkeit der Amerikaner und Russen.
Auf der Erde war Japan eine Macht, mit der man rechnen mußte. Ohne Japans finanziellen und technischen Beitrag wäre das Marsprojekt im Gezänk und Hin- und Hergeschiebe der Kosten zwischen Europäern, Russen und Amerikanern zugrunde gegangen. Trotzdem hatte kein einziger Japaner zu der ersten Gruppe gehört, die auf dem Mars gelandet war. Und der einzige Mensch, der bei dieser Expedition bisher den Tod gefunden hatte, war der brillante japanische Geochemiker Konoye gewesen.
Seiji Toshima war der Sohn eines Fabrikarbeiters, aber in ihm schlug das Herz eines Samurai. Ich werde die Ehre des japanischen Volkes hochhalten. Ich werde dafür sorgen, daß diese Ausländer Japan respektieren. Ich werde dafür sorgen, daß die ganze Welt den Beitrag Japans zur Erforschung des Mars anerkennt.
Ganz plötzlich wurde ihm klar, wohin seine Gedanken führten. Das ist unwürdig, sagte er sich. Wir sind Wissenschaftler.
Wissen kennt keine Nationalität. Ich bin Teil eines Teams, kein mittelalterlicher Egomane.
»Wir können den Zentralrechner benutzen«, sagte er zu Jamie Waterman und beugte sich dabei unbewußt ein bißchen vor, um den etwas über kniehohen Minicomputer zu tätscheln, der in seiner Ecke des Labors stand. Waterman war ein eigenartiger Mensch; fast so zurückhaltend und introvertiert wie ein Japaner. Ein Mann, der weiß, was korrektes Benehmen ist, dachte Toshima, der aber trotzdem bereit ist, für seine Überzeugungen zu kämpfen.
»Haben Sie von hier aus Zugriff auf die geologische Datei, oder muß ich zum Geologiecomputer gehen und sie auf eine Diskette kopieren?« fragte Jamie.
»Ich müßte eigentlich darauf zugreifen können«, antwortete Toshima. Sein rundes, flaches Gesicht war konzentriert und ernst. Dann lächelte er ein wenig. »Sofern Sie die Datei nicht mit einem speziellen Zugangsbeschränkungscode versehen haben, um sie geheimzuhalten.«
Jamie schüttelte den Kopf. »Nein. Keineswegs.«
Der Meteorologe zog sich eine Tastatur auf den Schoß und ließ seine kurzen Finger darüberfliegen. Jamie sah, daß der Bildschirm des Computers vor ihm einen Moment lang dunkel wurde, dann zeigte er eine farbige Karte des Mars, die aus einer Montage aus dem Orbit aufgenommener Fotos bestand.
Toshima murmelte etwas auf Japanisch, und auf dem Bildschirm legte sich plötzlich eine Wetterkarte über das Fotomosaik. Jamie erkannte die Symbole für eine Kaltfront und für Hoch- und Tiefdrucksysteme sowie die unregelmäßigen und schiefen Flächen von Isobaren.
»Das ist die aktuelle Wetterlage«, sagte Toshima. »Und hier ist die Computervorhersage für heute nacht« – die Symbole veränderten sich leicht; die Zahlen, die für die Temperaturen standen, fielen um hundert oder mehr ab – »und für morgen mittag, nach unserer Zeit.« Die Front kam erneut ein wenig näher. Die Temperaturen schossen in die Höhe. Auf ihrem Breitengrad stiegen sie sogar über den Gefrierpunkt.
Ein Anflug von Stolz klang in Toshimas Stimme mit, als er hinzufügte: »Ich kann Ihnen sogar die Windgeschwindigkeiten und Windrichtungen auf einem großen Teil des Planeten zeigen.«
»Woher kommen die Daten?« fragte Jamie, als Vektorpfeile die Karte sprenkelten. Sie zeigten die Windrichtungen an; die Anzahl der Fähnchen an ihrem hinteren Ende bezeichnete die Windgeschwindigkeit.
»Von dem Netz ferngesteuerter Beobachtungsstationen, das um den Planeten herumgelegt worden ist«, antwortete Toshima. »Und von den Ballons, natürlich.«
Die meteorologischen Ballons waren herrlich simpel, nicht viel mehr als lange, schmale, mit Wasserstoff gefüllte Schläuche aus außerordentlich dünnem, widerstandsfähigem Mylar.
Sie wurden von den Raumschiffen im Orbit nach Bedarf in ihren winzigen Kapseln in die Marsatmosphäre abgeworfen und bliesen sich automatisch auf, wenn sie die richtige Höhe erreichten. Dann schwebten sie wie phantastische, riesige weiße Zigaretten über der Landschaft.
Unter jedem Ballon hing eine ›Schlange‹, ein langes, dünnes Metallrohr, das Meßinstrumente, ein Funkgerät, Batterien und auch noch eine Heizung zum Schutz vor der Kälte enthielt.
Tagsüber schwebten die Ballons hoch oben in der Marsatmosphäre und ermittelten die Temperatur (niedrig), den Druck (niedriger), den Feuchtigkeitsgehalt (noch niedriger) und die chemische Zusammensetzung der Luft. Die Höhe, in der jeder Ballon schwebte, wurde von der Wasserstoffmenge in seinem langen, schmalen, zigarettenförmigen Rumpf bestimmt. Die Tageswinde trugen sie wie Löwenzahnsporen über die rote Landschaft.
Bei Nacht, wenn die Temperaturen so eisig wurden, daß sogar der Wasserstoff in den Ballons zu kondensieren begann, sanken sie alle wie eine Truppe anmutig knicksender Ballerinen nach unten. Die ›Schlangen‹ mit den Instrumenten berührten den Boden und übermittelten die ganze Nacht hindurch treu und brav Daten über die Oberflächenbedingungen, während die Ballons, die kaum genug Auftrieb hatten, um in sicherer Höhe über dem steinübersäten Boden zu schweben, in den dunklen Winden tanzten.
Nicht jeder Ballon überlebte. Während die meisten tagelang ununterbrochen über das Antlitz des Mars schwebten, jede Nacht müde hinabsanken und wieder aufstiegen, sobald der morgendliche Sonnenschein sie erwärmte, wurden manche von Felsen zerrissen oder verfingen sich an Berghängen. Einer verschwand in dem riesigen, tiefliegenden Krater von Hellas Planitia und war selbst mit den besten Kameras an Bord der um den Mars kreisenden Überwachungssatelliten nicht wiederzufinden. Aber die meisten Ballons flogen lautlos und ohne jeden Kraftaufwand dahin, paßten sich dem marsianischen Tag-und-Nacht-Zyklus an und berichteten getreulich über die Umwelt zwischen den beiden Polen.