»Wie Sie sehen«, sagte Toshima mit einem Nicken zum Bildschirm, »ist die Wetterlage hier in der nördlichen Hemisphäre ziemlich stabil. Und ziemlich langweilig.«
»Das Sommermuster«, murmelte Jamie.
Toshima freute sich, daß der Geologe sich zumindest ein kleines bißchen mit dem Marsklima auskannte. Doch in der südlichen Hemisphäre, wo Winter herrschte, war das Wetter ebenso ruhig; auch dort gab es kaum Störungen. Keine großen Staubstürme, nicht einmal ein anständiger zyklonartiger Luftstrom, den man studieren und von dem man etwas lernen konnte.
»Können wir näher an Tithonium herangehen?« fragte Jamie, den Blick auf den meteorologischen Bildschirm gerichtet.
»Ja, natürlich«, sagte Toshima.
Die gewundene Spalte des ungeheuren Grabenbruches schien auf Jamie zuzurasen, bis Tithonium Chasma und sein südlicher Gefährte, Ius Chasma, den Bildschirm ausfüllten. Einen Moment lang ignorierte Jamie die meteorologischen Symbole, die das Bild überlagerten; er sah nur die kilometerhohen Felsen und die gewaltigen Rutschungen, die Bereiche des riesigen Canyons teilweise ausfüllten.
»Dort ist eine Anomalie«, sagte Toshima.
Der Meteorologe hatte seinen Hocker nah zu Jamies Stuhl gezogen. Ihre Köpfe berührten sich beinahe, als sie auf den Bildschirm schauten. Jamie blickte auf das gigantische Werk uralter Krustenbrüche, Toshima sah sich mit schmalen Augen die meteorologischen Daten an.
»Eine Anomalie?«
»Ich hätte sie schon vor Tagen bemerken müssen, aber jetzt kommen so viele Daten herein…« Er zuckte leicht die Achseln, was gewiß sowohl eine Rechtfertigung als auch eine Entschuldigung sein sollte. »Wir verfolgen sogar die abgeworfenen Fallschirme unserer Landefahrzeuge, die der Wind über den Boden weht.«
»Was für eine Anomalie?« fragte Jamie.
»Nur zwei der Ballons haben diesen Teil des Grand Canyon überflogen«, sagte Toshima und fuhr mit einer Fingerspitze über das Bild von Tithonium auf dem Monitor. »Sie haben beide viel höhere Lufttemperaturen gemeldet als unser MetSat.«
Jamie sah ihn an. »Der meteorologische Satellit behauptet, die Temperaturen in dem Canyon seien tiefer, als die Meßinstrumente der Ballons gemeldet haben?«
»Richtig«, sagte Toshima.
»Mit welchen Sensoren arbeiten sie?«
»Der MetSat natürlich mit Infrarot-Detektoren. Das ist die einzige Möglichkeit, aus so großer Entfernung Temperaturdaten zu bekommen. Die Ballons haben eine ganze Anzahl von Thermometern dabei. Sie messen die Temperatur direkt.«
»Und den Ballons zufolge ist die Luft unten in dem Canyon wärmer, als es die Satellitendaten angeben.«
Toshima nickte mit geschlossenen Augen. Es war fast eine kleine Verbeugung.
»Noch mehr Anomalien?«
Auf seinem Gesicht erschien ein dünnes Lächeln. »Ich hatte geglaubt, die Feuchtigkeitsdaten wären unbrauchbar. Die Sensoren schienen gesättigt zu sein.«
»Gesättigt?«
»Die Meßwerte erreichten das obere Ende der Skala und blieben dort, solange die Ballons im Canyon waren – ein paar Stunden, wie sich herausstellte. Wir haben keine Möglichkeit, ihre Richtung oder ihre Geschwindigkeit zu kontrollieren, müssen Sie wissen.«
»Ja, ich weiß.«
Toshima wandte den Blick von Jamie ab und schaute auf das Bild auf dem Monitor. »Da Sie jedoch berichtet haben, Sie hätten im Canyon Nebelschleier gesehen, kann ich – glaube ich –
erklären, was geschehen ist.«
Jamie wartete darauf, daß er fortfuhr.
»Die Feuchtigkeitssensoren sind für die sehr geringe Feuchtigkeit kalibriert, die wir auf dem Mars erwartet haben. Wenn die Ballons durch die Nebelschleier geflogen sind, vom denen Sie berichtet haben, dann sind sie auf eine so hohe Feuchtigkeit gestoßen, daß die Sensoren nicht mehr damit fertiggeworden sind. Die Sensoren wurden gesättigt.«
»Okay, das klingt logisch.«
»Andererseits sind da die Temperaturunterschieden…« Toshima lächelte breit. »Bedenken Sie: Die Infrarot-Sensoren des MetSat können nicht tief in den Canyon hineinschauen, wenn dort Nebelschleier hängen. Die Sensoren registrieren den Nebel und melden seine Temperatur.«
Jamie verstand. »Und wenn der Nebel aus Eiskristallen besteht…«
»Oder auch aus Wassertröpfchen«, nahm Toshima den Faden auf, »würde er den Infrarot-Sensoren viel kälter erscheinen als die Luft unter dem Nebel.«
»Die Nebelschleier fungieren als eine Art Decke, die die warme Luft am Grund des Canyons isoliert!«
»Genau. Aber das Radar an Bord des MetSat durchdringt den Nebel, als ob er nicht da wäre, und schickt uns korrekte Angaben über die Tiefe des Canyons. Bevor Sie über die Nebelschleier berichtet haben, hatte ich keine Ahnung, daß sie existierten.«
»Die Ballons haben Ihnen also zutreffendere Temperaturangaben geliefert als die Satelliten.« Jamie verstand allmählich.
Sein Körper begann vor Erregung zu kribbeln.
»So interpretiere ich die Daten«, erwiderte Toshima. Er bleckte grinsend die Zähne.
»Okay, dann wollen wir mal die geologischen Daten in dieses Bild einspeisen«, drängte Jamie. Er konnte kaum noch stillsitzen, so aufgeregt war er.
Toshima hackte auf der Tastatur herum, die auf seinem Schoß lag.
»Was suchen Sie?« fragte er.
»Wärme«, sagte Jamie. »Irgend etwas bewirkt, daß dieser Canyon wärmer ist als die Ebenen drum herum. Wärmer, als wir von Rechts wegen erwarten konnten. Vielleicht ist es Hitze, die aus dem Inneren des Planeten heraufkommt.«
»Ah! Heiße Quellen vielleicht. Oder ein Vulkan.«
»Nichts so Dramatisches wie ein Vulkan«, sagte Jamie, der gespannt auf den Bildschirm schaute und darauf wartete, daß die geologischen Daten dort auftauchten.
»Es gibt sehr große Vulkane auf dem Mars«, murmelte Toshima, während seine Finger die Tastatur bearbeiteten.
»Tausend Kilometer von Tithonium entfernt. Und sie sind seit Hunderten von Jahrmillionen erkaltet. Seit Jahrmilliarden vielleicht.«
Toshima flüsterte halb: »Jetzt«, und drückte mit seinem Wurstfinger ostentativ auf die ENTER-Taste.
Schlagartig erschien eine dünne Kolonne knallroter Symbole auf dem Bildschirm.
»Können wir von dieser Nahaufnahme zurückgehen und uns das Gebiet zwischen unserer Basis und dem Rand des Canyons ansehen?« fragte Jamie.
»Natürlich«, sagte Toshima.
Da waren sie, die Echtzeit-Meßwerte der Sensoren, die Jamie während seiner Exkursion mit Wosnesenski aufgestellt hatte.
Die Symbole verliefen in gerader Spur von der Kuppel bis zu den Badlands von Noctis Labyrinthus, dann zum Rand von Tithonium und schließlich zurück zur Basis. Zu jeder Gruppe von Sensoren gehörten Wärmestrom-Meßinstrumente. Auf der Erde maßen solche Sensoren die Wärme, die von dem geschmolzenen Magna tief unter der Kruste zur Oberfläche heraufkam.
»Nicht gerade übermäßig viel, oder?« murmelte Jamie und blickte angestrengt auf die winzigen roten Ziffern, als könnte er sie zum Leben erwecken, wenn er sie nur intensiv genug anstarrte.
Toshima sagte nichts. Er saß da, die Hände höflich im Schoß gefaltet.
»Der Planet ist kälter als eine gefrorene Kartoffel«, knurrte Jamie. »Aus seinem Kern kommt nicht mal genug Wärme herauf, um auch nur eine Tasse Tee zu erhitzen.«
»Kein Wärmestrom im Canyon?«
Jamie knetete frustriert beide Oberschenkel, ohne es zu merken. »Das ist es ja eben: Wir haben keine Meßinstrumente am Boden des Canyons. Das ist vielleicht der einzige Ort, wo tatsächlich Wärme vom Kern heraufkommt, aber wir haben keine Sensoren da unten, die es feststellen könnten!«
Toshima neigte leicht den Kopf, diesmal, um zu zeigen, daß er begriff. »Wir müssen also Sensoren auf dem Grund des Canyons aufstellen, wenn wir verstehen wollen, wodurch die Nebelschleier entstehen.«