»Nicht nur Sensoren«, sagte Jamie in eindringlichem Ton.
»Wir müssen selbst da hinunter. Irgendwie müssen wir ein Team auf den Boden des Canyons runterschaffen.«
Li Chengdu lächelte die drei Gesichter auf seinem Monitor dünn an. Es handelte sich um eine derart wichtige Entscheidung, daß alle drei Projektleiter sie mit ihm besprechen wollten.
Dafür kann ich mich bei Waterman bedanken, sagte sich Dr.
Li im stillen. Wenn er nicht wäre, würde alles nach Plan laufen.
»…daher haben wir die Flugkontrolleure angewiesen«, sagte der russische Projektleiter mit dem ernsten Gesicht gerade,
»einen Plan für eine Exkursion zur Tithonium-Chasma-Region vorzubereiten, einschließlich einer direkten Untersuchung des Bodens der Schlucht, sofern das möglich ist. Da es mindestens zwei Wochen dauern wird, einen solchen Plan in die Tat umzusetzen…«
Er hat es geschafft, dachte Dr. Li, während er der monotonen Stimme des Russen mit halbem Ohr lauschte. Waterman hat sie dazu gebracht, den Missionsplan vollständig umzuwerfen und einer Exkursion nach Tithonium zuzustimmen.
Der Expeditionskommandant beobachtete die anderen beiden Projektleiter, während der Russe mit seinen förmlichen Erklärungen fortfuhr. Der Japaner gab sich alle Mühe, gelassen dreinzuschauen, aber Li entdeckte ein Glitzern freudiger Erregung in seinen dunklen Augen. Und über das fleischige, gerötete Gesicht des Amerikaners, eines alten Haudegens, der Washingtons politische Messerstechereien bisher unbeschadet überstanden hatte, spielte ein mildes kleines Lächeln.
»… Pater DiNardo wird den Vorsitz in dem Ad-Hoc-Komitee übernehmen, das den Exkursionsplan ausarbeitet. Doktor Brumado wird als Mitglied kraft seines Amtes an den Sitzungen des Komitees teilnehmen…«
Der Russe redete in seinem monotonen Tonfall immer weiter, wie ein alter orthodoxer Priester, der irgendein unabänderliches Ritual rezitierte.
Was für eine Verschwörung das gewesen sein muß, dachte Li. Die amerikanische Vizepräsidentin hat sich mit dieser Änderung des Missionsplans offenbar einverstanden erklärt. Brumado muß sie irgendwie umgestimmt haben. Sie versucht nicht mehr, Waterman zu erledigen; irgendwie hat Brumado die beiden zu Verbündeten gemacht. Der Mann ist ein Wundertäter.
Eine Exkursion in den Tithonium Chasma. Wir werden den Plan für die letzten vier Wochen in den Papierkorb werfen und alles darauf umstellen müssen. Pateis Exkursion zum Pavonis Mons werde ich verkürzen müssen. Der arme Mann wird vor Wut platzen. Er hat sein halbes Leben damit verbracht, die Vermessung des Pavonis Mons vorzubereiten. Daraus wird nun wohl nichts mehr. Wir werden weder die Zeit noch die Mittel dafür haben.
Selbst die Arbeit hier im Orbit wird neu bestimmt werden müssen, um die Tithonium-Exkursion zu unterstützen. O’Hara wird besonders sauer sein – er hat kein Geheimnis daraus gemacht, daß er gehofft hat, die amerikanischen Politiker würden ihn im Austausch für Waterman auf die Oberfläche hinunterschicken.
Das hat sich jetzt erledigt. Irgendwie ist Waterman der eigentliche Führer des Bodenteams geworden. Er hat den Göttern den Blitz gestohlen. Jetzt stellt er sogar mich in den Schatten.
Dennoch lächelte Li die drei Projektleiter auf seinem Monitor weiterhin still an.
Eine Exkursion zum Boden des Grand Canyon! Der Wissenschaftler in ihm war fasziniert von den Möglichkeiten. Wärme und Feuchtigkeit. Vielleicht Leben. Leben! Was für ein Fund das wäre. Es würde eine neue Geschichtsepoche einläuten.
Trotzdem machte sich der Politiker in ihm Gedanken über die Schwierigkeiten, den Plan zu ändern, die Gefahren, die darin lagen, wenn man so kühn auf neues Gebiet vorrückte, und die Risiken, die jeden Schritt ins Unbekannte begleiteten.
Waterman, dachte er. Wenn er nicht wäre, würde alles glatt und ruhig laufen, genau nach Plan.
Lis Lächeln wurde ein wenig breiter. Wie langweilig das wäre! Außerdem – falls irgend etwas schiefgeht, wird man es in erster Linie ihm anlasten und nicht mir.
ERDE
NEW YORK: Edith saß nervös auf dem Rand des aufgepolsterten Stuhls. Howard Francis’ Apartment war viel kleiner, als sie erwartet hatte, kaum mehr als ein Studio. Das sogenannte Schlafzimmer war nur als ein Flügel des einzigen Zimmers; es war verspiegelt, damit es größer wirkte. Die Küchenecke war ein Alkoven mit einer Spüle, einer Mikrowelle und ein paar Schränkchen.
Der Network-Direktor räkelte sich lässig auf seinem Sofa.
Schuhe und Krawatte hatte er abgelegt, der Kopf lag an der Lehne, und er blickte mit halb geschlossenen Augen auf den großen Fernsehschirm. Das Fernsehgerät war das größte Möbelstück in der Wohnung.
Zwischen den halb zugezogenen Vorhängen des einzigen Fensters im Apartment hindurch sah Edith die verdunkelten Fenster des Network-Nachrichtengebäudes. Sie war nicht nur deshalb nervös, weil das Band, das gerade über den Fernseher flimmerte, über ihre zukünftige Karriere entscheiden konnte; es beunruhigte sie, daß ihr Boss darauf bestanden hatte, sich das Band hier in seinem Apartment anzuschauen und nicht in seinem Büro auf der anderen Straßenseite.
Sie hatte sich so schlicht wie möglich gekleidet: ein unförmiges Sweatshirt und eine ausgebeulte alte Hose. Er hatte sie ohne Schuhe und mit gelöster Krawatte an der Tür seines Apartments empfangen und bereits ein Glas Weißwein in der Hand gehabt.
Jamies Band dauerte keine zehn Minuten. Als es zu Ende war, schaltete der Fernseher automatisch auf den Nachrichtenkanal um.
Ihr Boss stellte den Ton ab und sah sie mit schläfrigem Blick an. Edith fand, daß er wie eine betäubte Ratte aussah.
»Ist ja nicht gerade viel, wie?« sagte er träge.
Sie war ehrlich überrascht. »Nicht viel? Er hat uns mehr über diesen Meteoriteneinschlag erzählt als Kaliningrad und Houston zusammen. Und er hat uns gezeigt, wie es in der Umgebung ihrer Basis aussieht. Er hat uns erzählt, was sie entdeckt haben…«
»Das meiste davon wissen wir schon aus den offiziellen Berichten. Und deren Bildmaterial war auch besser.«
»Okay, aber Jamie erzählt uns, daß er zum Grand Canyon zurückwill. Das steht nicht im Missionsplan. Ich habe nachgesehen.«
Er setzte sich aufrechter hin. »Womöglich Konflikt mit der Flugkontrolle?«
»Garantiert!«
Seine Augen wurden größer. »Einzelgänger-Wissenschaftler im Kampf mit den Funktionären. Obendrein mit russischen Funktionären. Das wäre vielleicht was.«
Edith lächelte. »Es ist mehr, als alle anderen haben.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich möchte nicht, daß wir uns zu weit aus dem Fenster lehnen. Es könnte uns den Kopf abreißen. Wir brauchen mehr als bloß das Wort dieses einen Burschen.«
»Ich kann bei ein paar Leuten in Houston nachfragen. Und an Brumado komme ich auch jederzeit ran…«
»Das glaube ich gern«, sagte er mit einem lüsternen Grinsen.
Edith sprang auf. »Ich sollte mich sofort an die Arbeit machen.«
»Morgen früh«, sagte er und streckte die Hand aus, um sie aufs Sofa zu ziehen.
Sie wich ihm aus. »Brumado ist jetzt in Washington, aber nicht mehr lange. Am besten, ich mache mich gleich auf den Weg.«
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Nachts um diese Zeit fliegen keine Maschinen, Herrgott noch mal. Entspann dich. Trink einen Schluck Wein.«
»Sie bezahlen mich dafür, daß ich Ihnen Nachrichten liefere«, erwiderte Edith lächelnd. »Lassen Sie mich meine Brötchen verdienen.«
»Steck dir deine Brötchen sonstwo…«
Aber sie war schon auf dem Weg zur Tür. »Ich miete mir einen Wagen und rufe Sie aus Washington an – mit einem Exklusivinterview mit Brumado. Und vielleicht sogar mit der Vizepräsidentin!«
Edith war draußen, bevor er vom Sofa hochkam. Es klappt immer, dachte sie. Männer denken nun mal mit den Eiern.