Vor Jahren war sie durch Schaden klug geworden und hatte die erste Überlebensregel gelernt: Geh nie mit einem Mann ins Bett, bevor du nicht von ihm bekommen hast, was du willst.
Er will Sex. Ich will einen festen Job, nicht dieses kleine Berater-Arrangement. Er könnte mich jederzeit rauswerfen, wann immer es ihm beliebt. Wenn es mir gelingt, die Story über Jamies Kampf mit den Projektleitern als erste zu bringen, dann bekomme ich einen Fulltime-Job, und er kann seinen Fick kriegen, um den Deal zu zementieren. Vielleicht.
DOSSIER
JAMES FOX WATERMAN
Daß der junge James Waterman Studentenführer wurde, hatte er einem neurotischen Assistenzprofessor und einem Officer der State Police zu verdanken. Die Episode verfolgte ihn immer noch immer bis in seine Träume.
Die Sache hatte sich während Jamies zweitem Studentenjahr in Albuquerque zugetragen. Er war ein stiller Student, ein Einzelgänger, der zu seinen Seminaren ging und seine Arbeit machte, aber nicht viel Kontakt mit den anderen Studenten hatte. Die meisten seiner Lehrer erinnerten sich – wenn überhaupt – an einen ernsthaften jungen Mann mit dem kupferfarbenen, breitwangigen Gesicht eines Indianers, der in den Seminaren kaum je ein Wort sagte, aber hervorragende Arbeiten abgab. Jamie bekam in den meisten Seminaren sehr gute Noten, erntete aber weder bei seinen Kommilitonen noch beim Lehrkörper des Fachbereichs irgendeine Anerkennung.
Er lebte abseits des Campus bei Freunden seines Großvaters, einer Navajo-Familie, die eine Modeboutique auf der Altstadt-Plaza von Albuquerque hatte. Jamie fuhr mit einem gebrauchten Motorroller hin und her und verdiente sich ein paar Dollar, indem er am Wochenende im Laden aushalf.
Obwohl es so gut wie niemand bemerkte, war Jamie beinahe ein Einserstudent. An dem Beinahe war sein Shakespeare-Seminar im zweiten Studienjahr schuld.
Den Erstsemester-Einführungskurs in englischer Literatur hatte Jamie erfolgreich absolviert. Seine ersten Begegnungen mit dem reichen Schrifttum, das mit Beowulf begann und sich über die Jahrhunderte hinweg bis zu Eliot und Ballard erstreckte, hatten ihm Spaß gemacht. Vor Kipling mit seiner
›Bürde des weißen Mannes‹ war er anfangs allerdings zurückgeschreckt. Aber die schlichtweg wunderbaren, abenteuerlichen Gedichte und Geschichten des Mannes hatten dann doch sein Herz erobert.
Im Shakespeare-Seminar ging es ganz anders zu. Unter Lehrtätigkeit verstand Assistenzprofessor Ferrara, daß er den Studenten auf seinem Schreibtisch stehend alle Rollen der Stücke des Barden laut vorlas, wobei er dramatisch deklamierte und die Luft mit Gesten durchschnitt. Es dauerte nur eine Woche, bis Jamie begriff, daß der kleine Ferraro – ein Mann in mittleren Jahren – ein gescheiterter Schauspieler war, der all seine Seminare zu seiner persönlichen Bühne umfunktionierte.
In der Mitte des Semesters bekam Jamie Ärger mit Ferraro.
Der kleine Mann stellte keine Fragen und verlangte keine schriftlichen Arbeiten. Er erwartete nur, daß seine Studenten seine Schreibtischauftritte mit verzückter Aufmerksamkeit verfolgten. Und dann applaudierten. Als Jamie fragte, wie Othello – angeblich doch ein intelligenter Menschenführer – so vollständig auf Jagos durchsichtige Intrigen hereinfallen konnte, funkelte Ferraro ihn wütend an und erklärte ihm, er solle das Stück so oft lesen, bis er es verstanden habe. Als Jamie aufrichtig verwirrt fragte, ob Rosenkranz und Güldenstern Homosexuelle sein sollten, erwiderte Ferraro kalt: »Ich werde nicht zulassen, daß mein Seminar in einen Zirkus verwandelt wird.«
Natürlich befaßte sich Jamie in erster Linie mit anderen Themen: Geologie, Chemie, höhere Mathematik, Geschichte. Aber er hatte den Eindruck, daß er für die Shakespeare-Prüfung in der Mitte des Semesters ebenso gut vorbereitet war wie jeder andere im Seminar. Er hatte die Stücke gelesen und sich die Videos angesehen. Er hatte die kritischen Analysen nachgeschlagen, die in Ferraros Literaturliste standen. Da traf es ihn wie ein Schlag, als Ferraro die Noten vorlas und verkündete, James Waterman habe nicht bestanden.
Jamie, der so schockiert war, daß er innerlich zitterte, blieb nach dem Seminar noch da und fragte, ob er den Test mitnehmen könne. Ferraro lehnte rundweg ab. Jamie sah den Stapel der blauen Mappen auf dem Schreibtisch des Mannes und fragte, ob er seinen Test sehen und ihn mit ihm durchgehen könne, um herauszufinden, wo seine Fehler gelegen hätten.
»Sie dürfen Ihre blaue Mappe nicht sehen«, sagte Ferraro.
Trotz seiner dick besohlten Schuhe, die ihn größer machen sollten, mußte er sich nun, wo er auf dem Boden des Seminarraums stand, den Hals verrenken, um Jamie ins Gesicht zu schauen.
»Aber es ist mein Test«, sagte Jamie.
Ferraro legte eine Hand auf den blauen Stapel. »Diese Prüfungsunterlagen sind Eigentum der Universität, nicht der Studenten. Sie dürfen Ihren Test nicht an sich nehmen. Ich verbiete es.«
Dann drehte er sich hoheitsvoll um und ging zur Tür. Sein Gespräch mit Jamie war beendet, soweit es ihn betraf.
Jamie wurde nun erst richtig wütend. Er ging den blauen Stapel durch, fand seine Mappe und blätterte rasch darin. Nirgendwo war etwas angestrichen. Kein Vermerk. Überhaupt nichts, nur eine große rote Sechs auf dem Umschlag.
»Was machen Sie da?« kreischte Ferraro von der Tür her.
»Legen Sie das hin!«
Mit der Prüfungsmappe in der Hand marschierte Jamie auf den kleinen Mann zu. »Sie haben meinen Test nicht einmal gelesen! Sie haben mich einfach durchrasseln lassen, als Sie meinen Namen auf dem Umschlag gesehen haben!«
»Diese Prüfungsmappe ist Eigentum der Universität!« brüllte Ferraro und zeigte mit einem zitternden Finger auf Jamie. »Sie dürfen sie nicht aus diesem Seminarraum entfernen! Das ist Diebstahl!«
Jamie drängte sich an dem Assistenzprofessor vorbei, die Prüfungsmappe fest umklammert, die Zähne vor Wut zusammengebissen.
»Damit gehe ich zum Studentenausschuß«, rief er über die Schulter zurück. »Und zum Dekan!«
Und er marschierte den Flur entlang, ohne auf die erschrockenen Blicke der Studenten zu achten, während Ferraro brüllte: »Dieb! Haltet den Dieb!«
Niemand versuchte, Jamie aufzuhalten. Er ging zu seinem Motorroller und fuhr zu dem Haus des Navajo-Ladenbesitzers zurück, in dem er ein Zimmer gemietet hatte.
Der Officer der State Police kam just in dem Augenblick, als sich die Familie zum Abendessen zusammensetzte. Die Türglocke ertönte, und eine der Töchter ging hin und machte auf.
Sie kam mit langem Gesicht und ängstlichem Blick zurück.
»Es ist ein Polizist. Er will dich sprechen, Jamie.«
Jamie, der sich fragte, ob er mit seinem Motorroller irgendwelche Verkehrsregeln übertreten hatte, ging zur Tür. Mit seiner Uniform, der verspiegelten Sonnenbrille und dem breitkrempigen Hut sah der Polizist so aus, als wäre er ungefähr drei Meter groß. Die Pistole in dem Halfter an seiner Hüfte wirkte riesig.
»James Waterman?« fragte er mit der Stimme eines Roboters.
Jamie nickte. Seine Gedanken rasten.
»Bei uns liegt eine Anzeige gegen dich vor. Du sollst Staatseigentum entwendet haben.«
»Was?« Jamie bekam weiche Knie.
Der Ladenbesitzer kam hinter Jamie herbei und legte ihm schützend eine Hand auf die Schulter.
»Sieht so aus, als würdest du beschuldigt, einige Papiere der Universität gestohlen zu haben«, sagte der Polizist. »Du stehst am Rand eines tiefen Lochs, junger Mann.«
»Es ist mein Prüfungsbogen«, sagte Jamie leise. »Mein Professor wollte mir meinen eigenen Prüfungsbogen nicht zurückgeben.«
Der Polizist nahm bedächtig seine Sonnenbrille ab. Sofort bekam sein Gesicht menschliche Züge. »Geht es darum?«