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Im Solarium von Camp Ben-Gurion hörte Miss Milch das Heulen der Sirenen und hielt mitten im Tanz der Zuckerfee aus Tschaikowskis Nußknacker-Suite inne, mit dem sie gerade auf dem Klavier die tanzenden Kinder begleitete.
»Feuer!« sagte einer der kleinen Jungen und ging zum Fenster. Die übrigen Kinder folgten.
»Nein, das ist ein Krankenwagen, Miss Milch«, sagte ein anderer Junge am Fenster. »Fährt ins Zentrum.«
Miss Milch spielte weiter, und die Kinder kehrten beim Klang der Rhythmen, die vom Klavier ertönten, wieder an ihre Plätze zurück. Sie waren Bären im Zoo, die nach Erdnüssen sprangen; die Musik suggerierte es ihnen, und Miss Milch meinte, sie sollten es ruhig ausleben.
Abseits an der Wand stand Manfred und achtete nicht auf die Musik, den Kopf gesenkt, die Miene nachdenklich. Als für einen Moment die Sirenen laut aufheulten, hob Manfred den Kopf. Miss Milch bemerkte es; sie keuchte auf und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Der Junge hatte es gehört! Sie hämmerte die Tschaikowski-Musik sogar noch lauter als zuvor herunter, und ein Glücksgefühl durchwogte sie: Sie und die Ärzte hatten Recht gehabt, durch den Klang war ein Kontakt mit dem Jungen zustande gekommen. Jetzt ging Manfred langsam zum Fenster und sah hinaus; ganz allein starrte er auf die Gebäude und Straßen hinunter, suchte nach dem Ursprung des Geräuschs, das ihn geweckt und seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Also ist doch nicht alles verloren, sagte sich Miss Milch. Wenn das erst sein Vater hört; es beweist, daß wir niemals von Aufgeben reden dürfen.
Sie spielte weiter, laut und glücklich.
Vier
David Bohlen baute gerade hinten im Gemüsegarten seiner Familie unter der heißen Mittagssonne des Mars einen Damm aus nassem Erdreich, als er den Polizeihubschrauber der UN das Haus der Steiners anfliegen und dort landen sah, und sofort wußte er, daß irgendwas los war.
Ein UN-Polizist in blauer Uniform und mit glänzendem Helm stieg aus dem Hubschrauber und ging über den Pfad zur Haustür der Steiners, und als zwei der kleinen Mädchen aufmachten, grüßte der Polizist sie. Danach sprach er mit Mrs. Steiner und verschwand im Innern des Hauses, und die Tür schloß sich hinter ihm.
David rappelte sich auf und eilte aus dem Garten über die Sandfläche zum Graben; er sprang hinüber und lief über das ebene Fleckchen Erde, auf dem Mrs. Steiner vergeblich versucht hatte, Stiefmütterchen zu ziehen, und traf an der Hausecke plötzlich auf eines der SteinerMädchen; sie stand teilnahmslos da und zupfte mit bleicher Miene an einem Wurgrashalm. Sie sah aus, als könnte ihr jeden Moment schlecht werden.
»He, stimmt was nicht?« fragte er sie. »Wieso quatscht der Polizist mit deiner Mutter?«
Das Steiner-Mädchen blickte ihn kurz an und sauste dann davon, ließ ihn einfach stehen.
Ich wette, ich weiß, worum's geht, dachte David. Sie haben Mr. Steiner verhaftet, weil er was Ungesetzliches getan hat. Er war ganz aufgeregt und hüpfte auf und ab. Ich wüßte zu gern, was das gewesen ist. Er machte kehrt und lief den gleichen Weg, den er gekommen war, wieder zurück, sprang über den Wassergraben und riß schließlich die Tür zu seinem eigenen Zuhause auf.
»Mom!« rief er und lief von Zimmer zu Zimmer. »He, weißt du noch, du und Dad, ihr habt doch immer gesagt, daß Mr. Steiner sich nicht ans Gesetz hält, ich meine, bei seiner Arbeit. Und weißt du was?«
Seine Mutter war nirgends zu finden; sie muß fortgegangen sein, um jemanden zu besuchen, wurde ihm klar. Zum Beispiel Mrs. Henessy, die weiter nördlich am Graben wohnte, zu Fuß leicht erreichbar; seine Mom war oft den ganzen Tag weg und besuchte andere Damen, trank mit ihnen Kaffee und tauschte den neuesten Klatsch aus. Also, die verpassen was, dachte David bei sich. Er lief zum Fenster und schaute hinaus, um sicherzugehen, daß ihm auch nichts entging.
Der Polizist und Mrs. Steiner waren jetzt wieder aufgetaucht, und beide gingen langsam zum Hubschrauber. Mrs. Steiner hielt sich ein großes Taschentuch vor das Gesicht, und der Polizist hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, als wäre er ein Verwandter oder so. Fasziniert beobachtete David, wie die beiden in den Hubschrauber stiegen. Die Steiner-Mädchen standen in einer kleinen Gruppe zusammen und machten seltsame Gesichter. Der Polizist ging hinüber und sprach mit ihnen, dann kehrte er zum Hubschrauber zurück - und bemerkte David. Er winkte ihn zu sich heraus, und David gehorchte ängstlich; er verließ das Haus, blinzelte im Sonnenlicht und näherte sich Schritt für Schritt dem Polizisten mit dem glänzenden Helm und der Armbinde und der Waffe an der Hüfte.
»Wie heißt du, mein Junge?« fragte der Polizist mit einem Akzent.
»David Bohlen.« Ihm zitterten die Knie.
»Ist deine Mutter oder dein Vater zu Hause, David?«
»Nein«, sagte er, »nur ich.«
»Wenn deine Eltern zurückkommen, sag ihnen, sie sollen auf die Steiner-Mädchen aufpassen, bis Mrs. Steiner wieder da ist.« Der Polizist ließ den Motor des Hubschraubers an, und der Rotor begann sich zu drehen. »Tust du das, David? Hast du mich verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte David und bemerkte, daß der Polizist einen blauen Streifen trug, was bedeutete, daß er Schwede war. Der Junge kannte sämtliche Erkennungszeichen, die die verschiedenen UN-Einheiten benutzten. Er fragte sich, wie schnell der Polizeihubschrauber wohl fliegen mochte; allem Anschein nach war er speziell auf Tempo getrimmt, und er wünschte, er könnte dann mitfliegen: Er hatte jetzt keine Angst mehr vor dem Polizisten und hätte gern noch länger mit ihm gesprochen. Doch der Polizist brach auf; der Hubschrauber erhob sich vom Boden, und Wind und Sand wirbelte um David herum auf, so daß er sich abwenden und den Arm vors Gesicht halten mußte.
Die vier Steiner-Mädchen standen noch immer beisammen, und keines machte den Mund auf. Eines, das älteste, weinte; Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, doch es gab keinen Laut von sich. Das kleinste, das erst drei war, lächelte David schüchtern an.
»Wollt ihr mir bei meinem Damm helfen?« rief David ihnen zu. »Ihr könnt rüberkommen; der Polizist hat mir gesagt, ihr dürft.«
Nach einer Weile kam das jüngste Steiner-Mädchen auf ihn zu, und dann folgten die anderen.
»Was hat euer Dad angestellt?« fragte David das älteste Mädchen. Es war zwölf, älter als er. »Der Polizist hat gemeint, ihr könnt es ruhig sagen«, fügte er hinzu.
Es kam keine Antwort; das Mädchen starrte ihn nur an.
»Wenn du es mir sagst«, meinte David, »erzähle ich's auch keinem weiter. Ich verspreche, daß ich es für mich behalte.«
*
Silvia Bohlen sonnte sich auf June Henessys umzäuntem, mit Wein überwachsenem Patio, trank Eistee und unterhielt sich schläfrig, als sie hörte, wie das Radio im Henessy-Haus die ersten Abendnachrichten brachte.
June richtete sich auf und sagte: »Sag mal, ist das nicht der Mann, der neben euch wohnt?«
»Sssch«, sagte Silvia und lauschte gespannt dem Nachrichtensprecher. Aber mehr kam nicht, nur die kurze Meldung: Norbert Steiner, Naturkosthändler, hatte auf einer Straße im Geschäftsviertel von Neu-Israel Selbstmord begangen, indem er sich vor einen Bus warf. Es war der Steiner, klare Sache; es war ihr Nachbar, sie wußte es sofort.
»Wie entsetzlich«, sagte June, setzte sich ganz auf und band ihr gepunktetes Bikini-Oberteil fest. »Ich hab ihn nur ein paarmal gesehen, aber ...«
»Er war ein schrecklicher Kleingeist«, sagte Silvia. »Überrascht mich nicht, daß er das getan hat.« Und trotzdem war sie fassungslos. Sie konnte es nicht glauben.
Sie stand auf und sagte: »Mit vier Kindern - er hat sie mit der Sorge um vier Kinder allein gelassen! Ist das nicht furchtbar? Was soll jetzt aus ihnen werden? Sie waren auch so schon völlig hilflos.«