Выбрать главу

»Deshalb verlassen wir die Berge«, dachte einer der männlichen Bleichen zu Manfred. »Jetzt, wo es angefangen hat, ist es uns nicht mehr möglich, hier zu leben. Durch unseren Felsen haben wir das schon lange vorhergesehen, doch jetzt ist es soweit.«

Innerlich sagte Manfred: »Kann ich mit euch kommen?«

Erstaunt zogen sich die Bleichmänner zurück, um über seinen Wunsch zu beraten. Sie wurden nicht schlau aus ihm und seinen Absichten; so etwas hatten sie bei einem Einwanderer noch nicht erlebt.

»Wir ziehen in die Wüste hinaus«, sagte ihm der junge Mann schließlich. »Es ist ungewiß, ob wir dort überleben werden; wir können es nur versuchen. Bist du sicher, daß das für dich das Richtige ist?«

»Ja«, sagte Manfred.

»Dann komm mit«, entschieden die Bleichmänner.

Sie setzten ihren Treck fort. Sie waren müde, schritten aber trotzdem gleich wieder kräftig aus. Manfred dachte anfangs, man würde ihn zurücklassen, doch die Bleichmänner verlangsamten für ihn, so daß er aufholen konnte.

Vor ihnen lag die Wüste, vor den Bleichen und vor ihm. Aber keiner bereute etwas; der Rückweg war ihnen ohnehin verwehrt, weil sie unter den neuen Bedingungen nicht leben konnten.

Ich werde nicht im Am-Web leben müssen, sagte sich Manfred, während er neben den Bleichmännern herlief. Mit Hilfe dieser dunklen Schatten werde ich fliehen.

Er fühlte sich großartig, besser, als er sich seiner Erinnerung nach jemals im Leben gefühlt hatte.

Eine der Bleichmannfrauen bot ihm schüchtern von den Zigaretten an, die sie bei sich trug. Er nahm eine und bedankte sich. Sie gingen weiter.

Und während sie so dahingingen, spürte Manfred Steiner, daß etwas Merkwürdiges in seinem Innern geschah. Er veränderte sich.

*

Bei Einbruch der Dunkelheit sah Silvia Bohlen, als sie gerade für sich, David und ihren Schwiegervater das Abendessen zubereitete, eine Gestalt zu Fuß, eine Gestalt, die am Rand des Kanals entlangging. Ein Mann, sagte sie sich; erschrocken lief sie zur Haustür, öffnete und spähte hinaus, um zu sehen, wer das war. Gott sei Dank, es war nicht dieser sogenannte Naturkosthändler, dieser Otto wie-hieß-er-noch-gleich ...

»Ich bin's, Silvia«, sagte Jack Bohlen.

David stürmte aus dem Haus auf seinen Vater zu und rief aufgeregt: »He, wie kommt's, daß du den Hubschrauber nicht mitbringst? Hast du den Traktorbus genommen? Jede Wette. Was ist mit dem Hubschrauber passiert, Dad? Ist er abgeschmiert, und du bist in der Wüste gestrandet?«

»Der Hubschrauber ist hinüber«, sagte Jack. Er sah müde aus.

»Ich hab's im Radio gehört«, sagte Silvia.

»Das mit Arnie Kott?« Er nickte. »Ja, es ist wahr.« Er betrat das Haus und legte den Mantel ab; Silvia hängte ihn für ihn in den Wandschrank.

»Das geht dir sehr nahe, was?« sagte sie.

Jack sagte: »Kein Job mehr. Arnie hatte Mr. Yee meinen Vertrag abgekauft.« Er sah sich um. »Wo ist Leo?«

»Macht ein Nickerchen. Er war fast den ganzen Tag geschäftlich unterwegs. Ich bin froh, daß du zu Hause sein wirst, wenn er abfliegt; er bricht morgen zur Erde auf, hat er gesagt. Weißt du schon, daß die UN damit begonnen hat, sich Land in den FDR-Bergen zu sichern? Habe ich auch im Radio gehört.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Jack, ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. »Wie wär's mit einem Eistee?«

Als sie ihm den Eistee machte, sagte sie: »Ich frage dich besser nicht, wie ernst die Sache mit deinem Job ist.«

Jack sagte: »Ich kann mit fast jedem Reparaturgerät umgehen. Mr. Yee würde mich sicher wieder einstellen. Ich bin überzeugt, daß er sich eigentlich gar nicht von meinem Vertrag trennen wollte.«

»Warum bist du dann so niedergeschlagen?« sagte sie, und da fiel ihr Arnie wieder ein.

»Der Traktorbus hat mich anderthalb Meilen von hier abgesetzt«, sagte er. »Ich bin einfach müde.«

»Ich habe dich nicht zurückerwartet.« Sie fühlte, daß sie nervös wurde, und es fiel ihr schwer, sich wieder ans Abendessen zu machen. »Es gibt heute Leber, Schinken und Karottenbrei mit synthetischer Butter und einem Salat. Und Leo meinte, er möchte gern einen Kuchen zum Nachtisch; den wollten David und ich ihm nachher als kleine Leckerei backen, weil er doch abfliegt, und vielleicht sehen wir ihn nie wieder; darüber muß man sich im klaren sein.«

»Das mit dem Kuchen finde ich nett«, murmelte Jack.

Silvia platzte heraus: »Vielleicht sagst du mir endlich, was los ist - so habe ich dich ja noch nie erlebt. Du bist nicht nur müde; das hat mit dem Tod dieses Mannes zu tun.«

Darauf sagte er: »Mir geht im Kopf herum, was Arnie vor seinem Tod sagte. Ich war bei ihm. Arnie sagte, er befände sich nicht in der realen Welt; er wäre im Phantasiegebilde eines Schizophrenen gefangen, und daran muß ich ständig denken. Mir ist nie zuvor der Gedanke gekommen, wie sehr unsere Welt der von Manfred gleicht - ich hab sie für grundverschieden gehalten. Jetzt sehe ich, daß es eher eine quantitative Frage ist.«

»Du willst mir nicht zufällig erzählen, wie Mr. Kott gestorben ist, oder? Im Radio hieß es nur, er sei bei einem Hubschrauberunfall im unwegsamen Gelände der FDR-Berge ums Leben gekommen.«

»Es war kein Unfall. Arnie wurde von jemandem ermordet, der zweifellos hinter ihm her war, weil Arnie ihm übel mitgespielt hatte und der ein Recht darauf hatte, sauer auf ihn zu sein. Die Polizei sucht ihn jetzt natürlich. Arnie starb in der Überzeugung, daß er das Opfer von sinnlosem, psychotischem Haß geworden sei, aber eigentlich war es ganz rationaler Haß, der nicht die geringsten Merkmale einer Pychose aufwies.«

Schuldgefühle überwältigten Silvia, und sie dachte: Dieselbe Art von Haß, die du mir entgegenbringen würdest, wenn du wüßtest, was für eine Abscheulichkeit ich heute begangen habe. »Jack ...« sagte sie unbeholfen, nicht sicher, wie sie es ausdrücken sollte, aber mit dem deutlichen Gefühl, die Frage stellen zu müssen. »Glaubst du, daß es mit unserer Ehe vorbei ist?«

Er starrte sie lange an. »Warum sagst du das?«

»Ich will nur von dir hören, daß es nicht so ist.«

»Es ist nicht so«, sagte er und starrte sie weiter an; sie fühlte sich ihm ausgeliefert, als könnte er ihre Gedanken lesen, als wüßte er irgendwie ganz genau, was sie getan hatte. »Besteht Grund zu der Annahme, daß es so ist? Weshalb glaubst du wohl, bin ich nach Hause gekommen? Wenn es mit unserer Ehe vorbei wäre, wäre ich dann heute hier aufgetaucht, nachdem ...« Da verstummte er. »Ich möchte gern meinen Eistee«, murmelte er.

»Nachdem was?« fragte sie.

Er sagte: »Nach Arnies Tod.«

»Wohin solltest du sonst gehen?«

»Es gibt immer zwei Orte, zwischen denen man wählen kann. Das Zuhause und der Rest der Welt mit all den anderen Menschen darin.«

Silvia sagte: »Wie ist sie so?«

»Wer?«

»Das Mädchen. Du hättest es eben fast ausgesprochen.«

Seine Antwort ließ so lange auf sich warten, daß sie schon nicht mehr daran glaubte. Und dann sagte er: »Sie hat rotes Haar. Ich wäre fast bei ihr geblieben. Aber ich bin's nicht. Reicht es nicht, das zu wissen?«

»Ich habe auch eine Wahl«, sagte Silvia.

»Das wußte ich nicht«, sagte er hölzern. »Das war mir nicht klar.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls gut, daß es mir klar geworden ist; so was ist ernüchternd. Du redest doch jetzt nicht theoretisch, oder? Du sprichst von der konkreten Realität.«

»Allerdings«, sagte Silvia.

David kam in die Küche gelaufen. »Großvater Leo ist wach«, rief er. »Ich hab ihm gesagt, du bist wieder zu Hause, Dad, und er ist mächtig froh darüber, und er will wissen, wie die Dinge denn so stehen.«

»Sie stehen großartig«, sagte Jack.

Silvia sagte zu ihm: »Jack, ich möchte, daß wir zusammenbleiben. Wenn du es auch willst.«

»Sicher«, sagte er. »Das weißt du doch, ich bin wieder zurück.« Er lächelte sie so unglücklich an, daß es ihr fast das Herz brach. »Ich habe einen langen Weg hinter mich gebracht, erst mit diesem gottverdammten Traktorbus, den ich so sehr hasse, und dann zu Fuß.«