»Things are seldom what they seem, skim milk masquerades as cream«, heißt es in W. S. Gilberts Operette H. M. S. Pinafore aus dem Jahr 1878, und Philip K. Dick widmete sich sein Leben lang der Niederschrift eines Riesenromans (mehr als zwei Millionen Wörter), der sich aus diesem einen Gedanken entwickelt. Fünfundvierzig Romane, von einem einzelnen geschrieben, Stück für Stück in einzelnen Büchern veröffentlicht, und doch von seinen zahlreichen Lesern auf der ganzen Welt intuitiv als eine große fortlaufende - oder auch nicht fortlaufende -Geschichte verstanden, als ein großes Buch. Ein Buch über fiktionale Gestalten, die einen Blick auf die absolute Realität erhaschen, die immer wieder entdecken, daß die Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Das ist dein Leben, Homo sapiens des 20. Jahrhunderts: Finde dich damit ab! Und wer sich nicht damit abfinden kann, dem mag die Lektüre von Philip K. Dicks Romanen wenigstens helfen, darüber zu lachen und sich nicht so allein zu fühlen. Phils Verstand ist ein merkwürdig anheimelnder Ort, denn auch wir haben seine verrückten Zweifel und Visionen gehabt. Durch ihn bekommt unsere eigene Verrücktheit etwas Gewitztes - vielleicht sogar Weises. Sehen Sie dasselbe wie ich?? Ja? Haben Sie dann vielleicht eine Ahnung, wie wir die nächsten Minuten, Stunden, Jahre überstehen sollen?
Es ist doch so: Denken Sie daran, daß wir alle nur aus Staub gemacht sind. Das verspricht zugegebenermaßen wenig Aussicht auf Erfolg, und davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Aber selbst wenn man bedenkt, daß zu Anfang einiges schiefgelaufen ist, halten wir uns eigentlich recht gut. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir es, trotz der miserablen Situation, in der wir uns momentan befinden, schaffen können. Noch Fragen?
(Aus einem firmeninternen Audio-Memo an alle Pre-Fash-Berater der Perky Pat Layouts Inc., diktiert von Leo Bulero unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Mars)
- Die drei Stigmata, des Palmer Eldritch
In Dicks Roman Ubik ist der Protagonist Joe Chip dabei, sein futuristisches Kondommium-Apartment zu verlassen:
Er ging energischen Schritts auf die Wohnungstür zu, drehte den Drücker herum und zog den Riegel zurück. Die Tür ließ sich nicht öffnen.
Sie sagte: »Fünf Cents, bitte.«
Er durchkramte seine Taschen. Keine einzige Münze mehr; nichts. »Ich zahle morgen«, sagte er. Erneut drehte er an dem Drücker. Das Schloß blieb zu. »Was ich dir zahle«, sagte er, »ist seinem Wesen nach ein Trinkgeld. Ich muß dich nicht bezahlen.«
»Das sehe ich anders«, sagte die Tür. »Bitte werfen Sie einen Blick in den Kaufvertrag, den Sie selbst unterschrieben haben, als Sie diese Wohnung erwarben.«
Joe Jedermann im Streit mit dem Computer, der für die Tür seines schäbigen, futuristischen Großstadtapartments zuständig ist, ist eine der komischen Schlüsselszenen in Dicks Meta-Roman; so wie der geschlagene Held in Now Wait for Last Year, der einen sprechenden Taxifahrerroboter um Verständnis und Rat bittet in der Frage, ob er seine Frau verlassen soll oder nicht, eine der tragikomischen Schlüsselszenen ist. Und es ist wiederum ein Apartmentgebäude, das sich als ein zentrales Motiv postmodernen Schreckens in einem an alptraumhaften Schrecken reichen Gesamtwerk in den Köpfen der Leser festgesetzt hat: das sogenannte Am-Web in Marsianischer Zeitsturz, einer slumartig heruntergekommenen Wohnheimanlage, gezeichnet von dem aus der Zeit gefallenen autistischen Kind Manfred Steiner, der eines Tages dort für hundertdreiundzwanzig Jahre als starrsinniger Pflegefall eingesperrt sein wird. Das ist nicht komisch. Vielen Lesern geht das zu sehr ans Eingemachte, obwohl der Gebäudekomplex noch gar nicht existiert in der steinigen marsianischen Ödnis der Franklin D. Roosevelt-Berge, sondern zur Zeit der Romanhandlung gerade erst Gegenstand erbitterter Grundstücksspekulationen ist.
Manfreds Horrorvision ist gleichzeitig Ausdruck der unauslöschlichen Greuel der jüngsten Menschheitsgeschichte wie auch seiner, Manfreds, eigenen unabwendbaren Zukunft und gleichzeitig Ausdruck seiner und unserer Gegenwart. Bei Dick wird der Schrecken des Am-Web mit Händen greifbar, und die Zeitsprünge, die Manfred erlebt und provoziert, scheinen auf mysteriöse Weise vertraut, glaubhaft, wiedererkennbar. Manfred ist ein paradoxes, zynisches (und gefährliches) Unschuldslamm, und wir können nicht umhin, uns mit ihm und seinen bizarren Umständen zu identifizieren, mitzufühlen mit ihm und den Menschen, deren Lebensweg er kreuzt: Jack, dem ex-schizophrenen Mechaniker; Doreen, Jacks gutaussehender und überraschend einfühlsamer Geliebter; Silvia, seiner verwirrten, tablettenabhängigen Ehefrau; und selbst mit Arnie Kott, dem maßlosen, von Selbstzweifeln geplagten komischen Despoten und Führer der marsianischen Kanalarbeitergewerkschaft. Dies ist kein gewöhnlicher Roman. Es ist ein Philip-K.-Dick-Abenteuer, und die Gefahr ist, wie viele festgestellt haben, daß, wer es einmal erlebt hat, süchtig danach wird. Selbst der Autor hatte mit Entzugserscheinungen zu kämpfen:
Was mir wichtig ist, ist das Schreiben, der Akt der Romanverfertigung, denn während ich dabei bin, in dem Moment bin ich in der Welt, über die ich schreibe. Sie ist für mich durch und durch real. Dann, wenn ich fertig bin und aufhören muß, mich für immer von dieser Welt verabschieden muß, bin ich wie am Boden zerstört. Die Männer und Frauen haben aufgehört zu reden. Sie bewegen sich nicht mehr. Ich bin allein, es fehlt an Geld, und, wie gesagt, ich bin jetzt fast vierzig ... und ich schwör mir: Ich werde nie mehr einen Roman schreiben. Ich werde mir nie mehr Menschen ausdenken, von denen ich mich am Ende trennen muß. Das ist es, was ich mir vornehme ... und still und heimlich beginne ich ein neues Buch.
Die Welt, über die Dick schreibt, ist für seine Leser so real, wie sie für ihn real ist, und das macht Dicks besondere Leistung als Romanautor aus. Patricia Warrick macht in ihrem Buch Mind in Motion. The Fiction of Philip K. Dick eine wichtige Beobachtung, wie er das bewerkstelligt:
In Marsianischer Zeitsturz sehen wir die Welt nicht nur mit den Augen der Hauptfiguren wie Jack Bohlen und Arnie Kott, sondern auch aus der Sicht fast aller Nebenfiguren -Otto Zitte, Anne Esterhazy, Dr. Glaub, Silvia Bohlen. Das Ergebnis ist eine Fülle und eine Tiefe der Charakterisierungen, die uns mit jedem Individuum mitfühlen und mitleiden lassen. Die Ökonomie der Mittel ist dabei beeindruckend - eine rasche Skizzierung mit sicheren Strichen, wie bei einem Zeichner, der auf einem Skizzenblock vor unseren Augen eine Figur zum Leben erweckt. In einem kurzen Kapitel wird Norbert Steiner mit seinen Schuldgefühlen und seinem qualvollen Innenleben so real, daß wir das Unvermeidliche seines Selbstmords sofort begreifen.
Dicks Äußerung über den Produktionsprozeß und Warricks Äußerung über die Lektüreerfahrung bedingen sich gegenseitig. Er kann seine Figuren so leicht und effektiv zeichnen, weil er keine Distanz zu ihnen hat. Er verwendet sie nicht als Symbole (obwohl sie für den Leser reiche symbolische Bedeutung bekommen können), er feilt nicht an ihnen herum im Hinblick auf einen Plot oder eine Botschaft. Sie sind für ihn real, er schreibt auf, was er sie sagen hört und was er sie tun sieht. Wenn die Dinge, die sie tun, Wiederholungen von Handlungen und Begebenheiten aus seinem eigenen Leben sind, dann deshalb, weil es Projektionen seines Unbewußten sind, wie Personen und Situationen in Träumen. Er läßt uns mit ihnen allen mitfühlen, weil er es auch tut. Das ist keine Frage der Technik. Es ist sein konkretes Erleben im Moment des Schreibens, das wir beim Lesen teilen können.
Dr. Milton Glaub ist ein faszinierendes Beispiel. Er ist der einzige Psychiater im Roman, und wenngleich Dick (und sein Haupt-alter-ego im Roman Jack Bohlen) große Vorbehalte Psychiatern gegenüber hegt, die er als Tyrannen erlebt hat, die ihre Patienten mit einer PseudoWirklichkeit abspeisen, so ist Glaub doch kein Scharlatan, nicht die Art von eindeutigem Charakter, den man vielleicht von einem Autor erwarten könnte, der sich anschickt, sein Hauptwerk über die subjektiven Welten von Schizophrenen zu schreiben. Dick verwendet Glaub nicht als Symbol im gewöhnlichen dramaturgischen Sinn. Er beobachtet ihn, ehrlich interessiert und mitfühlend. Dies trotz des engen biographischen Bezugs, den Dick selbst nicht eher bemerkt haben dürfte, bis seine Helden so und nicht anders zu handeln anfingen und er es aufzeichnete.