Wenn ich verhindere, dass sich die bei dem wiedersehen, wiederhole ich dann das, was mit Luke passiert ist? Bekommt Minnie einen Komplex und gibt mir die Schuld daran, dass ich sie nie zu ihrer Großmutter gelassen habe?
Oh, Gott, es ist alles so kompliziert. Damit komme ich nicht zurecht. Ich möchte eine ganz normale Familie, in der Omas nette Menschen sind, die am Kamin sitzen und stricken.
»Ich weiß es einfach nicht«, sage ich noch einmal. »Wir müssen los.« »Auf Wiedersehen, Minnie.« Steif hebt Elinor eine Hand, wie die Queen.
»Bye-bye, Lady«, sagt Minnie fröhlich.
Plötzlich merke ich, dass Minnie sich die kleinen Taschen ihres Kleides mit Puzzleteilchen vollgestopft hat. Ich sollte sie herausnehmen und Elinor geben. Sonst versucht sie vielleicht ewig, ein Puzzle zu legen, das unvollständig ist. Und das wäre für sie doch wirklich nervig und frustrierend, oder?
Als reifer, erwachsener Mensch sollte ich sie ihr wirklich zurückgeben. »Bis dann«, sage ich, gehe zur Tür hinaus und ziehe sie hinter mir zu.
Auf dem ganzen Weg nach Hause quälen mich Schuldgefühle. Ich darf keiner Menschenseele erzählen, wo ich heute war. Niemand würde es verstehen, und Luke wäre am Boden zerstört. Oder fuchsteufelswild. Oder beides.
Als ich nach Hause komme, bin ich darauf vorbereitet, dass man uns gleich ausfragt, wo Minnie und ich den ganzen Tag waren, doch Mum blickt nur von ihrem Stuhl am Küchentisch auf und sagt: »Hallo, Liebes.« Der hohe, scharfe Ton ihrer Stimme hat so etwas an sich, dass ich noch einmal hinsehe. Auch ihre Wangen sind verdächtig gerötet.
»Hi, Mum. Alles okay?« Mein Blick fallt auf den dunkelblauen Strumpf in ihrer Hand. »Was machst du?«
»Nun!« Anscheinend hat sie schon darauf gewartet, dass ich frage. »Eigentlich ist es nicht so schwer zu erraten! Ich stopfe deinem Vater die Socken, da wir mittellos sind und uns neue Kleidung nicht leisten können ... «
»Das habe ich nicht gesagt!« Dad kommt hinter mir in die Küche marschiert. » ... und jetzt sagt er, sie sind »untragbar!«, beendet Mum ihren Satz. »Sieht das für dich »Untragbar( aus, Becky?«
»Äh ...« Ich untersuche den Strumpf, den sie mir zuwirft. Ohne mich über Mums Stopfkünste erheben zu wollen -aber es sieht wirklich etwas klumpig aus, mit riesigen Maschen aus hellblauer Wolle. Ich hätte auch keine Lust, die anzuziehen.
»Könntest du denn nicht ein Paar neue Strümpfe im Pound Shop kaufen?«, schlage ich vor.
»Neue Strümpfe? Und wer soll das bezahlen, wenn ich fragen darf?«, kreischt Mum, als hätte ich vorgeschlagen, Dad die feinsten mundgeklöppelten Monogramm-Socken von Jermyn Street zu besorgen.
»Also ... also ... die kosten nur ein Pfund ...«, »Ich habe mir welche von John Lewis bestellt«, sagt Dad mit einer Aura der Endgültigkeit.
»John Lewis!« Mums Stimme wird immer schriller. »John Lewis können wir uns also leisten, ja? Ich verstehe, Graham da gibt es eine Regel für dich und eine andere für mich. Nun, solange ich weiß, wo ich stehe ...«
»Jane, sei nicht albern. Du weißt genauso gut wie ich, dass uns ein Paar Strümpfe nicht in den Ruin treiben wird ...« Heimlich nehme ich Minnie bei der Hand und führe sie aus der Küche.
Mum und Dad sind momentan so kratzbürstig. Vor allem Mum. Glücklicherweise hat Minnie auf dem Heimweg bei Pizza Express zu Abend gegessen, sodass sie nur noch in die Wanne muss und ihre Milch braucht. Und wenn sie dann im Bett ist, kann ich mich in mein geheimes E-Mail-Konto einloggen und nachsehen, ob es da schon irgendwelche Antworten gibt ...
»Becky.« Lukes Stimme lässt mich zusammenfahren wie von der Tarantel gestochen. Da ist er schon, kommt die Treppe herunter. Wieso ist er denn schon so früh zu Hause? Weiß er über Elinor Bescheid? Vermutet er irgendwas?
Hör auf. Bleib ruhig, Becky. Er ahnt nichts. Er hatte nur einen Termin bei einem Klienten in Brighton. »Oh, hi!«, sage ich strahlend. »Minnie und ich waren nur ... unterwegs.«
»So ähnlich habe ich es mir vorstellt.« Luke sieht mich verwundert an. »Was macht mein kleines Mädchen?« Am unteren Ende der Treppe hebt er Minnie auf und nimmt sie in die Arme.
»Lady«, sagt Minnie ernst.
»Lady?« Luke kitzelt sie am Kinn. »Was für eine Lady, Schätzchen?«
»Lady.« Ihre Augen sind groß und ehrfürchtig. »Puzz-Ie.«
Aah! Seit wann kann Minnie das Wort »Puzzle« sagen? Wieso muss sie ihr Vokabular ausgerechnet jetzt erweitern? Mit was für neuen Worten kommt sie sonst noch an? »Elinor? Ritz Hotel? Weißt du was, Papa? Heute habe ich meine andere Großmutter besucht?
»Puzzle.« Plötzlich holt sie die Puzzleteilchen aus ihrer Tasche und zeigt sie Luke. »Lady.«
»Wie lustig!« Ich lache auf. »Wir haben uns Puzzles in einem Spielzeugladen angesehen, und da war eins von der Mona Lisa. Bestimmt sagt sie deswegen »Puzzle« und »Lady.«
»Tee«, fügt Minnie hinzu.
»Und wir haben Tee getrunken«, stimme ich verzweifelt mit ein. »Nur wir. Nur wir zwei.«
Sag nicht »Gro-muff«, um Gottes willen, sag nicht »Gro-muff« ...
»Klingt gut.« Luke stellt Minnie auf den Boden. »Übrigens hatte ich eben Michaels Assistentin auf der Mailbox.«
»Michael!«, sage ich abwesend. »Das ist schön. Wie geht es ihm?«
Michael ist einer unserer ältesten Freunde und lebt in den Staaten. Er war lange Jahre Lukes Geschäftspartner, doch inzwischen hat er sich mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt.
»Ich weiß nicht. Es war etwas seltsam.« Luke nimmt einen gelben Klebezettel und betrachtet ihn verwundert. »Die Verbindung war schlecht, aber ich glaube, seine Assistentin sagte irgendwas vom 7. April? Dass es mit der Party wohl nichts werden wird?«
Party?
Party?
Alles erstarrt. Ich werde zur Salzsäule, blicke Luke entsetzt an. Es ist, als hämmerte mein Herz laut in meinem Kopf.
Wieso ruft Michaels Assistentin an? Sie soll mir eine E-Mail schicken. Es soll doch ein Geheimnis sein. Hatte ich das nicht groß genug geschrieben? Hatte ich das nicht klar und deutlich gesagt?
»Hat er uns zu irgendwas eingeladen?« Luke ist richtiggehend bestürzt. ),Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir eine Einladung bekommen hätten.«
»Ich auch nicht«, presse ich hervor, nach -so kommt es mir vor -ungefähr sechs Stunden. »Klingt, als wäre sie irgendwie verschüttgegangen. «
»Aber da könnten wir sowieso nicht hin.« Mit gerunzelter Stirn betrachtet Luke die Nachricht. »Ich glaube, an dem Tag ist irgendwas. Ein Seminar oder so. «
»Okay.« Ich nicke heftig. »Okay. Na, dann lass mich doch Michael antworten!« Ich nehme Luke den Zettel weg und gebe mir alle Mühe, ihn nicht an mich zu reißen. »Lass mich das machen. Ich wollte mich sowieso mal nach seiner Tochter erkundigen. Sie kommt manchmal zu uns in den Laden, wenn sie in der Stadt ist.«
»Kann ich mir vorstellen. Wohin sollte sie auch sonst gehen?« Luke schenkt mir ein entwaffnendes Lächeln, aber ich kann es nicht erwidern.
»Okay ... würdest du Minnie vielleicht in die Wanne setzen?« Ich versuche, ruhig zu sprechen. »Ich muss kurz telefonieren.« »Klar.« Luke steuert die Treppe an. »Komm, Min, Badezeit!« Ich warte, bis die bei den auf halber Treppe sind, dann wetze ich raus in die Auffahrt und wähle hastig Bonnies Nummer.
»Katastrophe! Desaster!« Ich warte kaum ihr Hallo ab. »Die Assistentin von einem Gast hat wegen der Party angerufen! Sie hat Luke eine Nachricht hinterlassen! Ich meine, ich konnte gerade noch das Schlimmste verhindern ... aber was wäre, wenn ich nicht richtig reagiert hätte?«