Ich überlegte mir später, was für Möglichkeiten ihm eigentlich zur Wahl standen. Die Prätorianer wären gewiß nicht sehr darauf erpicht gewesen, an Stelle eines Zitherspielers einen Philosophen auf den Thron zu setzen, aber sie verabscheuten Tigellinus wegen seiner Härte und wären gern bereit gewesen, ihn aus dem Wege zu räumen. Außerdem kannten sie Senecas Reichtum und hätten große Geldgeschenke erpressen können.
Rufus hätte aber noch einen besonderen Grund gehabt, Seneca zu stützen. Er war jüdischer Abstammung und ursprünglich in Jerusalem daheim. Seines hohen Amtes wegen hielt er jedoch seine Herkunft geheim. Sein Vater war ein Freigelassener gewesen, ein Getreidehändler in Kyrene. Als der Sohn nach Rom ging, zahlte er den Feniern große Summen, damit sie ihn adoptierten. Rufus hatte sodann eine gründliche juristische Ausbildung erhalten und dank seiner Begabung und seinem Geschäftssinn Erfolg gehabt.
Ich weiß nicht, warum sein Vater Simon gewollt hatte, daß Rufus Römer wurde, aber ich weiß, daß dieser Sympathien für die Christen hegte. Mein Vater hatte mir einmal davon erzählt, daß Simon für Jesus von Nazareth das Kreuz zur Richtstätte in Jerusalem getragen haben soll, aber genau erinnere ich mich nicht mehr. Später stieß ich dann noch einmal auf den Namen Simon von Kyrene in den verworrenen Briefen, die mein Vater aus Jerusalem geschrieben hatte, und ich vermute, mein Vater half Rufus, seine Abstammung zu verbergen, und legte bei den Feniern ein Wort für ihn ein. Vielleicht hatte ich deshalb so leicht die Freundschaft des Rufus gewinnen können, als ich mich auf den Getreidehandel verlegte und seine Hilfe nötig hatte.
Seneca auf dem Kaiserthron wäre ein so großer politischer Vorteil für die Christen gewesen, daß es sich gelohnt hätte, einige Grundsätze zu opfern. Gewiß aber hatte Fenius Rufus eine schwere Wahl. Doch er war in erster Linie Jurist und Kaufmann, nicht Soldat. Deshalb konnte er sich nicht zu dem großen Entschluß durchringen und verließ sich offensichtlich darauf, selbst nicht entdeckt zu werden. Er bat also Silvanus, Nero zu gehorchen, Silvanus, das muß zu seiner Ehre gesagt werden, schämte sich, selbst zu Seneca zu gehen. Er schickte ihm einen Zenturio. Über Senecas Gleichmut im Angesicht des Todes ist so viel Erbauliches geschrieben worden, daß ich nicht mehr viel darüber zu sagen brauche. Ich meine allerdings, es war nicht sehr edel von ihm, seine junge Gattin, die noch das Leben vor sich hatte, überreden zu wollen, mit ihm zu sterben.
Seine Freunde berichteten, daß er sie zuerst tröstete und sie beschwor, nicht in ewigen Kummer zu versinken, sondern ihren Verlust zu verschmerzen und sich vor Augen zu führen, wie doch sein ganzes Leben der Ausübung der Tugend gewidmet gewesen sei. Als er sie auf diese Art weich gestimmt hatte, schilderte er im gleichen Atemzug, wie sehr ihn die Vorstellung erschrecke, was für Mißhandlungen seine geliebte Gattin in den Händen des blutdürstigen Nero ausgesetzt sein werde. Das trieb er so lange, bis Paulina erklärte, sie wolle lieber mit ihrem Gatten sterben. Seneca hob die Hände und sagte: »Ich habe dir gezeigt, wie du dir dein Leben erleichtern kannst. Du ziehst jedoch selbst einen ehrenvollen Tod vor, und ich glaube nicht, daß du schlecht gewählt hast. So wollen wir beide in der Stunde der Trennung die gleiche Festigkeit beweisen.« Dann – um Paulina keine Zeit zu lassen, sich anders zu besinnen – bat er den Zenturio rasch, ihm und seiner Gattin die Pulsadern aufzuschneiden.
Nero hatte jedoch nichts gegen Paulina. Er hatte ausdrücklich befohlen, sie zu schonen, wie er überhaupt, um seines Ansehens willen, darauf bedacht war, in seinen Urteilen alle unnötige Grausamkeit zu vermeiden. Der Zenturio mußte nun zwar Seneca gehorchen, aber er hütete sich, die Sehnen oder die Pulsader zu verletzten, als er Paulina in den Arm schnitt.
Senecas Körper war vom Alter und von der Diät so schwach, daß das Blut nur träge floß. Er stieg jedoch nicht in ein heißes Bad, wie es ein anderer an seiner Stelle getan hätte, sondern begann seinem Schreiber einige Berichtigungen zu seinen gesammelten Schriften zu diktieren. Da Paulina ihn durch ihr Weinen störte, bat er sie ungeduldig, in den Nebenraum zu gehen, und rechtfertigte sich damit, daß er sagte, ihre Standhaftigkeit solle nicht dadurch erschüttert werden, daß sie mit ansehen mußte, wie er litt.
Sobald sie den Raum verlassen hatte, nahmen sich auf Befehl der Soldaten Senecas Sklaven ihrer an, stillten die Blutung und legten einen Verband an. Paulina ließ sie gewähren. Auf diese Weise rettete ihr Senecas grenzenlose Eitelkeit das Leben.
Wie viele Stoiker fürchtete Seneca körperliche Schmerzen. Daher bat er seinen Leibarzt um ein betäubendes Gift, um das gleiche Gift, das die Athener Sokrates gegeben hatten. Vielleicht bildete er sich ein, die Nachwelt werde ihn darum mit Sokrates auf eine Stufe stellen. Als er zu Ende diktiert hatte und der Zenturio schon ungeduldig wurde, nahm er endlich ein heißes Bad und ging danach in die Dampfkammer des Hauses, wo er in den Dämpfen erstickte. Sein Leichnam wurde in aller Stille und ohne Zeremonien verbrannt, so wie er es im voraus bestimmt hatte, indem er aus der Not eine Tugend machte, denn Nero würde aus Angst vor politischen Kundgebungen eine öffentliche Bestattung ohnehin nicht zugelassen haben.
Paulina lebte dank dem Zenturio noch viele Jahre. Sie war allerdings bleich wie ein Gespenst, und es hieß, sie habe sich heimlich den Christen angeschlossen. Ich berichte, was man mir erzählt hat. Selbst verspürte ich kein Verlangen danach, mit der trauernden Witwe in Verbindung zu treten, und das wird jeder vernünftige Mensch verstehen. Erst nach ihrem Tode gestattete ich meinem Freigelassenen, der einen Verlag gegründet hatte, sich der gesammelten Schriften Senecas anzunehmen.
Mein Freund Petronius Arbiter, der Schriftsteller, starb, wie er es seinem Rufe schuldig war. Er lud seine Freunde zu einem üppigen Mahl, in dessen Verlauf er all die kostbaren Kunstschätze, die er gesammelt hatte, vernichtete, damit Nero sie nicht erbte. Am meisten trauerte Nero zwei unvergleichlichen Kristallbechern nach, um die er Petronius seit jeher beneidet hatte.
Seine Schriftstellereitelkeit stellte Petronius dadurch zufrieden, daß er in sein Testament ein vollständiges Verzeichnis aller Laster Neros aufnahm und alle Personen anführte, die ihm behilflich gewesen waren, sie zu befriedigen, wobei er es sich angelegen sein ließ, auch Zeit und Ort genau zu nennen, damit niemand meinte, er mißbrauche seine Phantasie. Er wird wohl dennoch ein wenig übertrieben haben, aber dafür erweckte er um so mehr Heiterkeit, als er seinen Freunden, während er langsam verblutete, das Testament vorlas. Er ließ sich übrigens mehrmals verbinden, um, wie er sagte, auch dem Tod möglichst großen Genuß abzugewinnen.
Das Testament ließ er Nero schicken, und es ist nur schade, daß er niemandem erlaubte, es vorher abzuschreiben. Das wäre ihm als ein Verstoß gegen die Freundschaft erschienen, die ihn einst mit Nero verbunden hatte. Petronius war ein vornehmer Mann, ich glaube, der vornehmste, dem ich je begegnet bin – trotz den pöbelhaften Geschichten, die er veröffentlichte.
Mich konnte er nicht zu seinem Abschiedsmahle laden, doch das nahm ich ihm nicht übel. Er ließ mich wissen, daß er für mein Verhalten volles Verständnis hatte und wahrscheinlich ebenso gehandelt hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Er selbst würde mich gern eingeladen haben, aber er fürchtete, ich könnte mich in Gegenwart einiger seiner Freunde nicht wohl fühlen. Ich habe mir seinen feinfühligen Brief aufgehoben und denke an Petronius noch heute wie an einen guten Freund.
Doch wozu von Tod und Verbannung so vieler guter Bekannter, edler Freunde und hochgeachteter Männer berichten! Angenehmer ist es, zu erzählen, welche Belohnungen Nero an diejenigen austeilte, die sich um die Aufdeckung und Unterdrückung der Verschwörung verdient gemacht hatten. Den Prätorianern gab er denselben Betrag, den die Verschwörer ihnen versprochen hatten: zweitausend Sesterze für jeden Mann. Außerdem erhöhte er ihren Sold, indem er bestimmte, daß sie fortan ihr Korn, das sie bis dahin zum geltenden Preis hatten kaufen müssen, umsonst erhalten sollten. Tigellinus und einige andere erhielten das Triumphrecht, und ihre Triumphstatuen wurden auf dem Palatin aufgestellt.