Das war meiner Ansicht nach die Wahrheit, und im übrigen verband mich mit Corbulo keine Freundschaft. Ich kannte ihn nicht einmal näher. Außerdem muß die Freundschaft beiseite treten, wenn der Staat in Gefahr ist. Dieser Grundsatz wird jedem Senator eingeprägt. Manchmal wird er sogar befolgt. Es ging aber nicht nur um das Wohl des Staates, es ging um unser eigenes Leben, und wir hatten keine Ursache, Corbulo zu schonen.
Ich erkühnte mich sogar zu bemerken, daß der Krieg gegen die Parther unserer Meinung nach aufgeschoben werden mußte, bis der Aufruhr in Jerusalem niedergeworfen war. Dazu brauchte man zunächst drei Legionen. Zum Glück standen die Legionen schon in ihrem Aufmarschgebiet, und wir hatten genug Belagerungsmaschinen, um auch die stärksten Mauern zu brechen. Mit dem Aufstand der Juden in Jerusalem konnten wir im Handumdrehen fertig werden. Gefährlicher schien es mir, daß es jüdische Kolonien in fast allen Städten des Reiches gab, von den dreißigtausend Juden Roms ganz zu schweigen.
Nero ließ mich zu Ende sprechen. Seine Erregung schien sich allmählich zu legen. Ich beeilte mich daher zu versichern, daß die Juden der Julius-Caesar-Synagoge in Rom nichts mit dem Aufruhr zu tun hatten. Dafür konnte ich geradestehen, obwohl ihre Abgaben an den Tempel zu Jerusalem offenbar dazu mißbraucht worden waren, den Aufruhr zu finanzieren. »Aber auch Poppaea schickte, nichts Böses ahnend, Geschenke an den Tempel.«
Als ich schwieg, wagte kein anderer ums Wort zu bitten. Nero dachte lange nach. Er runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. Dann verabschiedete er uns mit einer ungeduldigen Handbewegung. Er hatte an anderes zu denken. Wir sollten zur Strafe für unsere Versäumnisse eine Weile warten und im ungewissen bleiben.
Nero gedachte in seiner Eigenschaft als Imperator, ohne den Senat anzuhören, einen Befehlshaber zu ernennen, der seiner Ansicht nach fähig war, Jerusalem zu erobern, und ihm die dazu nötigen Truppen zur Verfügung zu stellen. Corbulo hatte er bereits rufen lassen, damit er ihm über Geschehenes und Ungeschehenes Rechenschaft ablege. Den parthischen Feldzug auf unbestimmte Zeit aufzuschieben war ein so ernster Entschluß, daß Nero zuerst die Vorzeichen erfragen und ein Opfer verrichten wollte.
Wir waren ein wenig erleichtert, als wir gingen, und ich lud meine Amtsbrüder zu einem guten Mahl in meiner Herberge, aber obwohl meine beiden berühmten Köche ihr Bestes getan hatten, wollte uns das Essen nicht recht schmecken. Wir sprachen über den Aufruhr und dachten nicht daran, Wasser in den Wein zu mischen. Meine Gäste äußerten so bittere und voreingenommene Ansichten über die Juden, daß ich mich gezwungen sah, ihnen zu widersprechen und die Juden geradezu in Schutz zu nehmen.
Sie haben gewiß auch ihre guten, achtenswerten Eigenschaften, und sie kämpften für die Freiheit ihres Volkes. Im übrigen war Judäa kaiserliche Provinz und nicht senatorische. Nero trug an dem Aufruhr selbst die Schuld, denn er hatte nach Felix einen rücksichtslosen Räuber wie Festus zum Prokurator ernannt.
Ich legte vielleicht ein wenig zu viel Eifer in meine Verteidigungsrede, denn die anderen Senatoren, denen der Wein schon zu Kopf gestiegen war, betrachteten mich mit verwunderten Blicken, und zuletzt sagte einer voll Verachtung: »Es scheint zu stimmen, was über dich gesagt wird. Du bist wirklich ein Narbenschwanz.«
Ich wollte diesen scheußlichen Spitznamen eigentlich verschweigen, aber dank dem Spottgedicht Deines bärtigen Freundes Juvenal ist er ohnehin wieder in aller Leute Mund. Nein, ich mache Dir keine Vorwürfe, mein Sohn, weil Du das Gedicht liegen ließest, als Du das letzte Mal hier warst, um Deinen Vater eine Freude zu machen. Es ist nur gut, daß ich erfahre, was man von mir denkt und was Du von Deinem Vater denkst. Außerdem gebrauchen die Dichter heutzutage noch viel unflätigere Ausdrücke. Soweit ich es verstehe, wollen sie die Wahrheit und den natürlichen Sprachgebrauch gegen die gekünstelte Schönrederei verteidigen, die uns Seneca hinterlassen hat. Vielleicht haben sie recht. Aber den Bart haben sie Titus abgeschaut, der diese Mode in Rom einführte, als er aus Jerusalem heimkehrte.
Corbulo vermochte nichts mehr zu retten. Nero wollte ihn nicht einmal sehen. Corbulo erhielt den Befehl, Selbstmord zu begehen, kaum daß er in Kenchreae an Land gegangen war. »Wenn ich das Glück gehabt hätte, unter einem anderen Kaiser zu leben, würde ich Rom die ganze Welt erobert haben«, sagte er. Dann stürzte er sich auf dem Kai in sein Schwert, nachdem er verfügte, daß es zerbrochen und ins Meer geworfen werden sollte, damit es nicht in unwürdige Hände geriet. Gleichwohl glaube ich nicht, daß er ein großer Feldherr war. Das beweist sein Fehlurteil, als sich ihm die größte Gelegenheit seines ganzen Lebens bot.
Nero hatte genug Vernunft, von seinem Lieblingsgedanken, eine Vorstellung in Ekbatana zu geben, abzulassen. Er war ein geschickter Schauspieler, und es fiel ihm nicht schwer, überzeugend zu stolpern, als er das Opfer darbrachte. Wir konnten also mit eigenen Augen sehen, daß die unsterblichen Götter die Unterwerfung der Parther noch nicht wünschten. Um ein verheerendes Unglück zu vermeiden, war es daher das klügste, den Feldzug aufzuschieben. Er hätte zu diesem Zweck auch gar nicht durchgeführt werden können, denn Vespasian verlangte, sobald er sich mit der Lage vertraut gemacht und genaue Erkundigungen über die Kriegsvorbereitungen der Juden eingezogen hatte, für die Belagerung Jerusalems vier Legionen.
Denn unbegreiflich sind die Wege der Vorsehung, wie Deine Mutter griesgrämig zu sagen pflegt, wenn mir wieder einmal ein Unternehmen geglückt ist. Ausgerechnet meinen früheren Vorgesetzten Flavius Vespasian beauftragte Nero in seiner Launenhaftigkeit mit der Belagerung Jerusalems. Vespasian wehrte sich bis zuletzt. Er erklärte, er sei des Kriegführens müde und habe in Britannien genug Ehre erworben, er sei ein alter Mann und es genüge ihm, Mitglied zweier Priesterkollegien zu sein.
Da er wirklich nicht mehr der Jüngste war und noch unmusikalischer als ich, widerfuhr ihm eines Tages das Mißgeschick, einzuschlafen, als Nero an einem Sängerwettstreit teilnahm. In seinem Zorn kommandierte ihn Nero zu einer beschwerlichen Strafexpedition ab, bei der keine Ehre zu gewinnen war. Er ließ sich zuletzt zwar durch seine Tränen erweichen, gab ihm aber dafür den endgültigen Befehl, Jerusalem zu belagern, und tröstete ihn, indem er sagte, nun habe er, Vespasian, eine einmalige Gelegenheit, sich an den Schätzen der Juden zu bereichern. So brauchte er nicht mehr Maulesel zu verkaufen, was ohnehin eine eines Senators unwürdige Beschäftigung war, und nicht mehr ständig über seine Armut zu jammern.
Die Ernennung Vespasians wurde allgemein als ein Beweis für Neros Wahnsinn angesehen. Vespasian war in dem Maße verachtet, daß Neros Lieblingssklaven ihn mit der größten Unhöflichkeit behandelten, wenn er sich bei seltenen Gelegenheiten einmal im Goldenen Haus blicken ließ. Eingeladen wurde er nur einmal im Jahr, an Neros Geburtstag, und selbst für diese Gunst mußte er sich erkenntlich zeigen, indem er Poppaea und später Statilia Messalina ein paar Maulesel schenkte.
Mit den Verhältnissen im Osten war Vespasian nicht vertraut. Es wäre niemandem eingefallen, ihn für einen Ausschuß oder irgendeinen Sonderauftrag vorzuschlagen. Dagegen hätte Ostorius, den Claudius seinerzeit gleichsam aus Versehen nach Britannien geschickt und der sich dort ausgezeichnet hatte, gern den Befehl über die Legionen übernommen, um den Aufstand der Juden niederzuwerfen. Er äußerte diesen Wunsch so oft, daß Nero schließlich mit gutem Grund mißtrauisch wurde und ihn enthaupten ließ. Vespasian hingegen vertraute er um so mehr, als dieser sich sträubte, den Auftrag zu übernehmen, und ihn als Strafe für seine Schläfrigkeit betrachtete, die er nicht genug verfluchen konnte.