Ich hielt ihnen einen kleinen Vortrag über den Glauben und die Sitten und Gebräuche der Juden und erklärte, daß es sich hier offensichtlich um eines der geschlossenen Häuser der Sekte der Essener handelte, wohin sie sich zur Ausübung ihres Glaubens zurückziehen, weil sie die Tempelsteuer nicht zahlen wollen. Die Essener fliehen die Welt und sind eher Feinde denn Freunde Jerusalems. Es bestand daher kein Grund, sie zu verfolgen.
Sie wurden von den Stillen im Lande unterstützt, die sich nicht mit Leib und Seele dem Glauben verschreiben konnten oder wollten, sondern es vorzogen, bei ihren Familien ihr bescheidenes Dasein zu fristen, ohne jemandem zu schaden. Nahm sich einer dieser Stillen im Lande eines verwundeten Aufständischen an, der bei ihm Schutz suchte, und gab er ihm Speise und Trank, so tat er es, um die Gebote seines Glaubens zu erfüllen, und nicht weil er auf der Seite der Aufrührer stand. Meine Reisebegleiter hatten mir erzählt, daß die Stillen im Lande sogar verwundete römische Legionäre aufgenommen und gepflegt hatten. Daher fand ich, man dürfe sie nicht ohne Ursache töten.
Vespasian brummte, in meinen jungen Jahren in Britannien hätte ich nicht so viel von wirklicher Kriegführung verstanden. Deshalb habe er mich lieber auf eine Vergnügungsreise kreuz und quer durchs ganze Land geschickt und mir mehr aus politischen Gründen, da nämlich mein Vater Senator geworden war, den Kriegstribunenrang verliehen als um meiner eigenen Verdienste willen. Es gelang mir jedoch, ihn davon zu überzeugen, daß es nicht dafürstand, die jüdische Landbevölkerung auszurotten, nur weil sie Verwundete pflegte.
Titus hielt zu mir, denn er war in Berenike, die Schwester des Herodes Agrippa verliebt und daher den Juden gewogen. Berenike lebte zwar, wie es bei den Herodiern Brauch war, in Blutschande mit ihrem Bruder, aber Titus meinte, man müsse eben versuchen, die jüdischen Sitten zu verstehen. Er schien zu hoffen, Berenikes närrische Liebe zu ihrem Bruder werde erkalten, und sie werde ihn in seinem bequemen Zelt besuchen, zumindest nachts, wenn niemand sie sah. In diese Sache mochte ich mich nicht einmischen.
Vespasians geringschätzige Worte über meine Reise in Britannien kränkten mich zutiefst. Deshalb sagte ich, wenn er nichts dagegen habe, wäre ich gern bereit, eine ähnliche Vergnügungsreise in die Stadt Jerusalem zu unternehmen, um mir die Verteidigungswerke der Stadt anzusehen und auszukundschaften, ob es nicht doch die eine oder andere schwache Stelle in der Verteidigungsbereitschaft der Juden gebe.
Es war wichtig zu wissen, wie viele verkleidete parthische Krieger sich in der Stadt befanden und die Schanzarbeiten leiteten. Die Parther hatten in Armenien genug Erfahrungen sammeln können, wie man eine Stadt belagert oder ihre Mauern verteidigt. Jedenfalls befanden sich in Jerusalem parthische Bogenschützen, denn es war nicht ratsam, sich den Mauern auf Schußweite zu nähern, und daß die ungeübten Juden plötzlich eine solche Treffsicherheit mit dem Bogen erlangt hätten, das konnte nicht einmal ich in meiner Unerfahrenheit in militärischen Dingen annehmen.
Mein Vorschlag machte Eindruck auf Vespasian. Er betrachtete mich blinzelnd, fuhr sich mit der Hand über den Mund, lachte laut auf und sagte, er als Oberbefehlshaber könne es nicht verantworten, daß ein römischer Senator sich einer so großen Gefahr aussetzte, sofern ich nicht ohnehin nur gescherzt hätte. Wenn man mich gefangennahm, konnten die Juden ihn erpressen. Kam ich auf schimpfliche Weise ums Leben, so war es eine Schande für ganz Rom und ihn dazu. Nero könnte zudem auf den Einfall kommen, daß er, Vespasian, absichtlich die persönlichen Freunde des Kaisers beseitigen wolle.
Er musterte mich mit einem schlauen Blick, aber ich kannte seine kleinen Finten nun schon zur Genüge und antwortete daher, dem Wohl des Staates müsse die Freundschaft weichen. Im übrigen habe er keinen Grund, mich zu beschimpfen, indem er mich einen Freund Neros nenne. In dieser Hinsicht brauchten wir einander nichts vorzumachen. Das Glück Roms und des Vaterlandes sei unser einziger Leitstern über diesem blutigen Schlachtfeld, wo die Leichen ihren Gestank verbreiteten, die Aasvögel sich mästeten und einige Legionäre wie an der Sonne getrocknete Ledersäcke von den Mauern Jerusalems niederhingen. Ich hob die Stimme in rhetorischer Steigerung, wie ich es von meinen Reden im Senat her gewohnt war. Vespasian schlug mir mit seiner großen Bauernhand freundlich auf die Schulter und versicherte, er zweifle nicht an meinen ehrenhaften Beweggründen und wisse, daß ich ein unerschütterlicher Freund des Vaterlandes sei. Er habe natürlich nicht gemeint, ich würde mich in den Schutz der Mauern Jerusalems schleichen, um den Juden seine militärischen Geheimnisse zu verraten. Nein, für so verrückt halte er mich nicht. Aber auf der Folterbank könne manchmal auch der Stärkste nicht schweigen. Die Juden hätten bewiesen, daß sie sehr geschickte Verhöre zu führen verstanden. Er betrachte es als seine vornehmste Pflicht, mein Leben zu beschützen, da ich mich nun einmal freiwillig unter seinen Schutz gestellt hätte.
Dann machte er mich in aller Freundlichkeit mit seinem Ratgeber Josephus bekannt, einem der Führer des jüdischen Aufstandes, der seine Kameraden verraten hatte, nachdem sie alle gemeinsam beschlossen hatten, Selbstmord zu begehen, um nicht den Römern in die Hände zu fallen. Josephus hatte seine Kameraden sterben lassen und sodann sich selbst ergeben und sein Leben gerettet, indem er Vespasian prophezeite, er werde eines Tages Kaiser sein. Zum Scherz hatte Vespasian ihm goldene Ketten anlegen lassen und versprochen, ihn freizugeben, sobald sich die Prophezeiung erfüllte. Er nahm übrigens später als Freigelassener frech den Namen Flavius Josephus an.
Ich empfand vom ersten Augenblick an nichts als Abscheu und Ekel vor diesem verachtungswürdigen Abtrünnigen und Verräter, und der literarische Ruhm, den er später erlangte, hat an meiner Meinung nichts geändert. Eher im Gegenteil. In seinem einfältigen, weitschweifigen Werk über den Aufstand der Juden überschätzt er meiner Ansicht nach die Bedeutung gewisser Ereignisse, und vor allem sind die endlosen Aufzählungen nebensächlicher Einzelheiten unerträglich langweilig.
Mein Urteil ist nicht im geringsten dadurch beeinflußt, daß er es nicht einmal für nötig hielt, meinen Namen in seinem Buch zu erwähnen, obwohl es nur mein Verdienst war, daß die Belagerung fortgesetzt wurde, nachdem ich mit eigenen Augen die Verhältnisse innerhalb der Mauern studiert hatte. Es wäre ja Wahnsinn gewesen, wenn Vespasian seine gut ausgebildeten Legionen mit vergeblichen Angriffen, auf die unerwartet starken Mauern aufgerieben hätte, da eine Belagerung und Aushungerung letzten Endes zu dem gleichen Ergebnis führten. Unnötige Verluste hätten die Legionäre nur gegen ihn aufgebracht, was für meine Zwecke nicht das Rechte gewesen wäre.
Ich habe jedoch nie nach Ruhm gestrebt, und es liegt mir nichts daran, in die Geschichte einzugehen. Deshalb macht es mir nichts aus, daß dieser verachtungswürdige Jude meine Leistungen verschwiegen hat. Ich hege niemals Groll gegen minderwertige Menschen und pflege mich nicht für Verunglimpfungen zu rächen, sofern mich nicht eine außergewöhnlich günstige Gelegenheit geradezu dazu herausfordert. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch.
Durch Vermittlung eines meiner Freigelassenen machte ich mich sogar erbötig, die Bücher des Flavius Josephus zu verlegen, und zwar sowohl das Werk über den jüdischen Krieg als auch seine Schilderungen der Geschichte und der Sitten der Juden, so viele Unrichtigkeiten sie auch enthalten, aber Josephus ließ mir hochmütig antworten, er ziehe trotz der vorteilhaften Bedingungen, die ich ihm bot, einen jüdischen Verleger vor. Vom »Jüdischen Krieg« brachte ich dann später heimlich eine gekürzte Fassung heraus, da das Buch unerwartet gut ging. Mein Freigelassener hatte ja seine Familie und seine alte Mutter zu versorgen, weshalb ich seinen Vorschlag nicht zurückwies. Und wenn ich es nicht getan hätte, würde es eben ein anderer getan haben.