Selbstverständlich kümmerte ich mich auch um das andere, nämlich die Verteidigungsbereitschaft der Stadt, ihre Mauern, Wurfmaschinen, Lebensmittel- und Wasservorräte und so fort, da es auch mir zum Vorteil gereichte, wenn Vespasian darüber genaue Auskünfte erhielt. Wasser hatte die Stadt genug in unterirdischen Zisternen. Vespasian hatte gleich zu Beginn der Belagerung das Aquädukt niederreißen lassen, das vor vierzig Jahren unter dem Prokurator Pontius Pilatus erbaut worden war. Die Juden hatten sich damals dieser Wasserleitung widersetzt, weil sie nicht von einer Versorgung von außen her abhängen wollten. Allein das beweist, wie lange der Aufruhr schon vorbereitet worden war. Man hatte nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet.
Lebensmittelvorräte hatte die Stadt jedoch keine. Ich sah zu Schatten abgemagerte Mütter, die sich vergeblich mühten, einen letzten Tropfen Milch aus ihren Brüsten zu pressen, und Kinder, die nur noch Haut und Knochen waren. Auch die Alten taten mir leid, denn sie erhielten keine Lebensmittelzuteilung. Die Aufständischen, die mit der Waffe in der Hand kämpften und die Mauern verstärkten, brauchten alle Nahrung für sich.
Auf dem Fleischmarkt sah ich, daß Tauben und Ratten Kostbarkeiten waren, deren Gewicht mit Silber aufgewogen wurde. Im Tempelbezirk gab es ganze Herden von Mutterschafen, von denen täglich welche dem blutdürstigen Jahve geopfert wurden, aber das ausgehungerte Volk von Jerusalem rührte sie nicht an. Man brauchte sie kaum zu bewachen, weil sie heilige Tiere waren. Die Priester und die Angehörigen des Hohen Rates waren übrigens noch recht wohlgenährt.
Die Leiden des jüdischen Volkes bedrückten mich, da in der Waagschale des unerklärlichen Gottes die Tränen der Juden vermutlich wohl ebensoviel wiegen wie die eines Römers, und mehr als die Tränen eines Erwachsenen wiegen eines Kindes Tränen; gleich, welche Sprache es spricht oder was für eine Farbe seine Haut hat. Dennoch mußte die Belagerung fortgesetzt werden. Die Juden waren durch ihre Unbeugsamkeit selbst an ihrem Schicksal schuld.
Jeder Jude, der – selbst während der Unterhandlungen mit den Römern – von Übergabe redete, wurde augenblicklich hingerichtet und landete, wenn ich einmal meine eigene, persönliche Meinung anführen darf, auf dem Fleischmarkt. Um Mitleid zu erregen, spricht der lügnerische Josephus von der einen oder anderen Mutter, die ihr Kind aufaß, aber in Wirklichkeit verhält es sich so, daß diese Dinge in Jerusalem so häufig vorkamen, daß sogar er sie erwähnen mußte, um sich wenigstens den Anstrich von Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit zu geben.
Ich bot diesem Josephus dann übrigens ein Honorar für die Auflage seines Jüdischen Krieges an, die unser Verlag verkaufte, obwohl ich das gar nicht nötig hatte. In seinem Hochmut lehnte Josephus das Geld ab und beklagte sich nur nach der Weise aller Schriftsteller über die Kürzungen, die ich hatte vornehmen lassen, um das Buch besser verkaufen zu können. Er wollte sich nicht davon überzeugen lassen, daß diese Kürzungen sein unerträglich langatmiges Buch nur verbesserten. So eitel sind Schriftsteller.
Sobald wir uns einig geworden waren, was für irreführende Auskünfte über die Verteidigung der Stadt ich Vespasian überbringen sollte und wie die Julius-Caesar-Synagoge in Rom ohne eigene Gefahr den Aufstand der Juden politisch unterstützen konnte, ließ mich der Hohe Rat aus der Stadt. Mit einer Binde vor den Augen wurde ich durch einen unterirdischen Gang geführt und in einen Steinbruch hinausgestoßen, in dem lauter verwesende Leichen umherlagen. Ich schlug mir auf meinem Gang durch den Steinbruch die Knie und die Ellenbogen auf und griff einmal, als ich stürzte, mit der Hand in eine aufgedunsene Leiche, denn die Juden hatten mir verboten, vor Ablauf einer gewissen Frist die Binde abzunehmen. Für den Fall, daß ich nicht gehorchte, drohten sie mir, mich mit Pfeilen zu durchbohren.
Während meines blinden Umhertastens gelang es den Juden, die Mündung des Geheimgangs so geschickt zu tarnen, daß wir später alle Mühe hatten, sie zu finden. Wir fanden sie zuletzt aber doch, denn ich mußte dafür sorgen, daß alle Schlupflöcher zugestopft wurden, und ließ nicht locker. Die Art, wie ich die Stadt verlassen hatte, brachte uns auf den Gedanken, an den unwahrscheinlichsten Orten nach geheimen Ausgängen zu suchen. Gleichwohl fanden wir im Laufe eines ganzen Jahres nur drei. Mir schlug nach meiner Rückkehr aus Jerusalem oft das Herz bis zum Halse, weil ich fürchtete, daß Deine Zukunft in Frage gestellt sei. Meine Sorge war jedoch unbegründet. Der Schatz war noch vorhanden, als Titus endlich die Stadt einnahm, und Vespasian konnte seine Schulden bezahlen.
Immerhin aber hatte ich mich ein ganzes Jahr lang im Osten aufhalten und Vespasian auf Schritt und Tritt folgen müssen, bis die Zeit endlich reif war.
XIV
VESPASIAN
Ich nutzte die Wartezeit, um auf Umwegen meine Sache bei Vespasian vorzubereiten, der feine Andeutungen sehr wohl verstand, aber vorsichtig und bedachtsam war. Im darauffolgenden Frühling starb Nero, sofern er wirklich tot ist. Rom wurde innerhalb eines einzigen Jahres von drei verschiedenen Kaisern regiert: Galba, Otho und Vitellius. Genaugenommen von vieren, wenn man den unverschämten Staatsstreich Domitians auf seines eigenen Vaters Kosten mit dazurechnet, aber das nahm ja ein schnelles Ende.
Es erheiterte mich, daß nach Galba ausgerechnet Otho Kaiser wurde. Auf diese Weise wäre Poppaea in jedem Falle kaiserliche Gemahlin geworden, auch wenn sie sich nicht von Otho hätte scheiden lassen, so daß die Weissagung gleichsam doppelt in Erfüllung ging. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich meine, ein vernünftiger Mensch sollte ab und zu doch etwas auf Vorzeichen und dergleichen geben.
Vitellius nahm, auf die rheinischen Legionen gestützt, die Zügel in die Hand, sobald er von der Ermordung Galbas erfuhr. Ich glaube, an Othos raschem Untergang war nur schuld, daß er sich erdreistete, das heilige Schwert Deines Stammvaters Julius Caesar aus dem Marstempel zu holen, wozu er weder juristisch noch moralisch gesehen das Recht hatte. Dieses Recht kommt nur Dir zu, Julius Antonianus Claudius, der Du in gerader absteigender Linie sowohl dem Geschlecht der Julier als auch dem der Antonier angehörst. Zum Glück bekam man das Schwert zurück und konnte es im Marstempel erneut weihen.
Othos Legionen wurden bei Dedriacum geschlagen, er selbst beging Selbstmord, um den Bürgerkrieg nicht zu verlängern, obwohl er frische Truppen in Bereitschaft hatte. Seinen letzten Brief schrieb er an Neros Witwe, Statilia Messalina. Er drückte ihr darin sein Bedauern aus, daß er sein Versprechen nicht halten und sich nicht mit ihr vermählen konnte. Seinen Leichnam und seinen Nachruf vertraute er in diesem für einen Feldherrn und Kaiser unziemlich gefühlvollen Brief Statilias Obhut an. Auf diese Weise bekam Statilia kurz nacheinander gleich zwei Kaisergräber, um die sie sich kümmern konnte.
Über Paulus Vitellius genügt es zu sagen, daß er seine frühe Jugend im Gefolge des Kaisers Tiberius auf Capri verbrachte. Die Verdienste seines berühmten Vaters will ich gern anerkennen, aber Paulus war so sittenlos, daß sein eigener Vater ihm nicht einmal das Amt eines Prokonsuls geben wollte. Es gelang ihm, sich in die Gunst dreier Kaiser einzuschmeicheln, eher um seiner Laster als um seiner Tugenden willen. Nero zählte ihn zu seinen Freunden, ich aber war nie mit ihm befreundet. Im Gegenteil, ich mied seine Gesellschaft, so gut es ging. Als Beweis für sein unanständiges Benehmen will ich nur anführen, daß er, als er das Schlachtfeld bei Badriacum aufsuchte, schnuppernd die Luft einsog und sagte: »Ein erschlagener Feind riecht gut, und ein erschlagener römischer Bürger riecht noch besser!«