Zu dieser Zeit standen Nero noch alle Möglichkeiten offen. Tigellinus hatte eine armlange Proskriptionsliste aufgestellt, die ich später in seinem Versteck fand und auf der auch mein Name stand. Das will ich ihm aber um unserer Freundschaft willen gern verzeihen. Weit mehr wunderte ich mich darüber, wie klar er die Notwendigkeit erkannt hatte, gewisse Männer, die Schlüsselämter im Staatsdienst innehatten, hinzurichten, als in Gallien und Iberien der Aufruhr emporloderte.
Auf der Liste standen die beiden derzeitigen Konsuln und eine so große Anzahl Senatoren, daß mich das Entsetzen packte. Es tat mir leid, daß ich die Liste aus politischen Gründen vernichten mußte. Es wäre sehr unterhaltsam gewesen, später einmal einige Namen daraus gewissen Gästen vorzulesen, die ich meiner Stellung wegen öfter einladen muß, obwohl mir nichts an ihrer Gesellschaft liegt.
Nero begnügte sich jedoch damit, die beiden Konsuln zu verabschieden und selbst allein das Konsulsamt zu besetzen. Seine Empfindsamkeit und seine Menschenliebe hinderten ihn daran, die strengen Maßnahmen zu ergreifen, die allein noch imstande gewesen wären, seine Macht zu retten. Dank Tigellinus standen die Prätorianer auf seiner Seite, aber er hätte den Baum bis auf den letzten kleinen Zweig abästen müssen, und er war der Ansicht, eine so strenge Behandlung vertrage der kräftigste Stamm nicht.
Nach seinen Triumphen als Künstler in Griechenland war Nero seiner Herrscherpflichten müde geworden. Ich glaube, wenn der Senat zuverlässiger gewesen wäre, würde er ihm nach und nach einen großen Teil seiner Macht übertragen haben. Du weißt aber selbst, wieviel Uneinigkeit im Senat herrscht und wie einer gegen den andern intrigiert. Der aufgeklärteste Alleinherrscher kann sich auf den Senat nicht voll verlassen, nicht einmal Vespasian. Ich hoffe, Du wirst dessen stets eingedenk sein, und ich sage das, obgleich ich selbst Senator bin und nach bestem Vermögen für die Überlieferungen und die Autorität des Senats eintrete.
Denn der Senat ist immer noch besser dazu geeignet, den Staat zu lenken, als das verantwortungslose Volk. Es gehört immerhin einiges dazu, Senator zu werden, während das Volk blind dem Manne folgt, der ihm außer Getreide auch noch Öl verspricht, die besten Theatervorstellungen anordnet und unter dem Deckmantel neuer Feiertage die meisten arbeitsfreien Tage einführt. Das Volk ist gefährlich und unzuverlässig, und es kann die besten Absichten zuschanden machen. Deshalb muß das Volk in guter Zucht und bei guter Laune gehalten werden.
Nero wollte keinen Krieg und am allerwenigsten einen Bürgerkrieg, der für alle echten Julier der vielen bitteren Erinnerungen wegen das Schlimmste ist, was einem Herrscher widerfahren kann. Er tat jedoch eigentlich nichts, um den Aufruhr zu unterdrücken, weil er kein Blut vergießen wollte. Denen, die ihm Vorwürfe machten, antwortete er spöttisch, es wäre vielleicht das beste, wenn er den Legionen, die sich Rom im Triumphmarsch näherten, allein entgegenträte und versuchte, sie für sich zu gewinnen, indem er ihnen vorsang. Deutet das nicht darauf hin, daß er sehr wohl seine eigenen geheimen Pläne haben konnte? Es ist kein leeres Gerede, daß er in seiner Jugend lieber auf Rhodos studierte als sich in der Politik geübt haben würde. Seine Sehnsucht war immer nach Osten gegangen, obwohl er nie weiter als bis Achaia kam.
Über Parthien wußte Nero vielleicht mehr als die militärischen Kundschafter, die nur auf Straßen, Weiden, Quellen, Furten, Bergpässe und befestigte Stützpunkte achten. Er sprach gern über die eigenartige Kultur der Parther, obwohl wir ihn auslachten, denn die Parther sind und bleiben doch Barbaren, bis Rom sie eines Tages zivilisiert.
Nach Neros Tod habe ich oft denken müssen, daß er vielleicht nur scherzte, als er sagte, er wolle eines Tages in Ekbatana auftreten. Ich habe gehört, daß Zitherspiel und Gesang nun in Parthiens vornehmsten Kreisen große Mode sind. Hier in Rom müssen wir uns seit der Eroberung Jerusalems ständig das Geklapper und Geklirre orientalischer Musikinstrumente anhören. Sistren und Tamburine, oder wie sie nun heißen.
Von der neumodischen Musik der jungen Leute kann einem alternden Mann wie mir ganz übel werden, und manchmal denke ich geradezu sehnsüchtig an das Zithergeklimper zu Neros Zeiten zurück, aber ich bin ja, wie ich von Dir und Deiner Mutter ständig zu hören bekomme, völlig unmusikalisch.
Deshalb ist es mir aber doch unbegreiflich, daß Du, wenn Du liest und studierst, einen Sklaven in Deiner Nähe haben mußt, der ein Sistrum schwenkt oder zwei Kupferdeckel zusammenschlägt, während ein heiserer Sänger ägyptische Schlager grölt. Ich würde den Verstand verlieren, wenn ich mir das ununterbrochen anhören müßte. Du aber behauptest allen Ernstes, Du könntest Dich ohne das nicht in Deine Lektüre vertiefen, und Deine Mutter, die immer und in allen Dingen zu Dir hält, erklärt, ich verstünde eben nichts davon. Wenn einem Fünfzehnjährigen schon der Bart wüchse, würdest Du gewiß auch einen tragen.
Nero, um auf ihn zurückzukommen, unternahm also nichts. Die Lügen und die öffentlichen Beleidigungen, die er hatte einstecken müssen, hatten ihn tief gekränkt. Galbas Truppen zogen siegreich, und dank Nero ohne eine einzige Schlacht schlagen zu müssen, gegen Rom. Und dann kam der Tag vor dem Minervafest, da Tigellinus es, um seine eigene Haut zu retten, für gut befand, die Prätorianer dem Senat zur Verfügung zu stellen. Der Senat wurde im Morgengrauen in aller Heimlichkeit zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen. Es erging aber nicht an alle, die in Rom wohnten, die Aufforderung zu erscheinen, sondern nur an die zuverlässigen, und selbstverständlich nicht an Nero, der allerdings das Recht gehabt hätte, an der Versammlung teilzunehmen, denn er war Senator wie die anderen und sogar in höherem Grade als sie. Tigellinus sorgte dafür, daß die Prätorianerposten und die germanische Leibwache am Abend ohne Ablösung vom Goldenen Haus abgezogen wurden.
Die beiden von Nero abgesetzten Konsuln führten widerrechtlich das Wort, und der Senat beschloß einstimmig, Galba zum Kaiser zu machen, einen kahlköpfigen, liederlichen Greis, der sich die athletischsten Liebhaber hielt, die er nur finden konnte. Ebenso einstimmig erklärte der Senat Nero zum Staatsfeind und verurteilte ihn zum Tode, und zwar sollte er nach altem Brauch zu Tode gegeißelt werden. Alle nahmen an, Nero werde Selbstmord begehen, um einer so unmenschlichen Bestrafung zu entgehen. Bei alldem tat sich Tigellinus am eifrigsten hervor.
Nero erwachte mitten in der Nacht im Schlafgemach seines verlassenen Goldenen Hauses. An seiner Seite lag seine treue »Gattin« Sporus. Sonst waren im ganzen Hause nur noch einige wenige Sklaven und Freigelassene zu finden. Er schickte Boten zu seinen Freunden, aber keiner von den vielen sandte ihm auch nur eine Antwort. Um den Undank der Welt in vollem Maße zu erfahren, begab sich Nero zu Fuß und nur von einigen Getreuen begleitet in die Stadt und klopfte an die Türen einiger Häuser, die er einst Freunden geschenkt hatte. Die Türen blieben geschlossen, und von drinnen war kein Laut zu hören. Die Leute, die in diesen Häusern wohnten, hatten vorsichtshalber sogar den Hunden die Schnauzen zugebunden.
Als Nero ins Goldene Haus und in sein Schlafgemach zurückkehrte, sah er, daß man bereits die seidenen Bettücher und andere Kostbarkeiten gestohlen hatte. Er stieg zu Pferde und ritt davon, mit verhülltem Haupt und bloßen Füßen, nur mit dem Untergewand und einem Sklavenmantel bekleidet, und zwar ritt er zu einem Landgut, das einem seiner Freigelassenen gehörte, der Pfau hieß. Der Pfau hatte seinem eigenen Bericht zufolge Nero sein Haus als Versteck zur Verfügung gestellt. Es liegt an der Via Salaria, beim vierten Meilenstein. Du wirst Dich erinnern, daß Seneca den letzten Tag seines Lebens in seinem Haus beim vierten Meilenstein verbrachte und daß Kephas beim vierten Meilenstein der Via Appia umkehrte und nach Rom zurückging.