Hier unten befanden sich drei Türen in der Betonkammer. Die erste war in der Südwand; durch sie war sie gekommen, und durch sie konnte sie in den Erdgeschoßflur zurückkehren. Die zweite war in der Westwand und öffnete sich zur rückwärtigen Fassade des Motels, wo offenbar ein kleiner Zufahrtsweg zwischen dem Gelände und der Klippe über dem Meer war, und die dritte war in der Ostwand, dort konnte sie wahrscheinlich zum Parkplatz vor dem Motel gelangen. Sie drückte nicht auf die Taste, um das Coke zu bekommen, ließ auch den Eiskübel stehen und trat rasch und leise zur Südtür und riß sie auf.
Sie sah eine Bewegung am gegenüberliegenden Ende des Erdgeschoßflurs. Jemand duckte sich zur anderen Feuertür hinaus ins südliche Treppenhaus. Sie konnte ihn kaum erkennen, nur einen schemenhaften Umriß, denn er hatte nicht auf dem orangefarbenen Teppich selbst gestanden, sondern auf der Schwelle gegenüber, daher hatte er sich auch binnen Sekundenbruchteilen verstecken können. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
Mindestens zwei Männer - sie vermutete, daß es Männer waren, keine Frauen - waren hinter ihr her.
Hier im Treppenhaus erzeugten die Türangeln oben ein kaum wahrnehmbares Quietschen von Metall. Der andere Mann hatte es offenbar satt, darauf zu warten, daß sie ein übertönendes Geräusch machte.
Sie konnte nicht in den Flur gehen. Sie hatten sie zwischen sich gefangen.
Sie könnte zwar schreien, um andere Gäste auf sich aufmerksam zu machen und den Männern einen Schrecken einzujagen, aber sie zögerte, weil sie befürchtete, das Motel könnte so verlassen sein, wie es schien. Ihr Schrei brachte vielleicht keine Hilfe herbei, machte aber die Verfolger darauf aufmerksam, daß sie von ihnen wußte und sie nicht mehr vorsichtig sein mußten.
Jemand kam die Treppe über ihr heruntergeschlichen.
Tessa wandte sich vom Flur ab, trat zur Osttür und lief in die neblige Nacht hinaus, an der Seitenwand des Gebäudes entlang und zum Parkplatz, hinter dem die Cypress Lane lag. Dann lief sie keuchend an der Vo rderfront des Cove Lodge entlang zur Rezeption, die sich gegenüber der jetzt geschlossenen Cafeteria befand.
Die Rezeption war geöffnet, die Schwelle war in das vom Nebel weichgemachte, diffuse Leuchten des rosa und gelben Neonschilds getaucht, und der Mann hinter der Theke war derselbe, bei dem sie sich vor ein paar Stunden angemeldet hatte. Er war groß und leicht untersetzt, etwa Mitte fünfzig, rasiert und mit ordentlich geschnittenen Haaren, aber dafür in einer etwas zerknittert wirkenden, braunen Cordhose und einem roten Flanellhemd. Er legte eine Zeitschrift weg, stellte die Countrymusik im Radio leiser, stand von seinem gepolsterten Bürostuhl auf und hörte ihr, stirnrunzelnd an die Theke gelehnt zu, wie sie, etwas zu atemlos, schilderte, was vorgefallen war.
»Nun, dies ist keine große Stadt, Ma'am«, sagte er, als sie fertig war. »Moonlight Cove ist ein friedlicher Ort. Hier müssen Sie sich wegen so etwas keine Gedanken machen.« »Aber es war so«, beharrte sie und sah nervös in den neonbemalten Nebel, der in der Dunkelheit zwischen Rezeptionstür und Fenster trieb.
»Oh, ich bin sicher, daß Sie jemand gehört oder gesehen haben, aber Sie haben die Situation sicher falsch interpretiert. Wir haben ein paar Gäste. Die haben Sie gehört, und sie haben sich möglicherweise, genau wie Sie, nur etwas Eis und was zu trinken holen wollen.« Er hatte ein gütiges, großväterliches Aussehen, wenn er lächelte. »Es kann hier etwas unheimlich wirken, wenn nicht viele Gäste da sind.« »Hören Sie, Mister...«
»Quinn. Gordon Quinn.«
»Hören Sie, Mr. Quinn, es war ganz und gar nicht so.« Sie kam sich wie eine schrille, alberne Ziege vor, obwohl sie wußte, daß sie das nicht wahr. »Ich habe unschuldige Gäste nicht für Räuber und Vergewaltiger gehalten. Ich bin keine hysterische Frau. Diese Burschen hatten nichts Gutes im Sinn.«
»Nun... also gut. Ich denke, daß Sie sich irren, aber wir wollen trotzdem einmal nachsehen.« Quinn kam durch eine Klappe in der Theke auf ihre Seite des Büros.
»Wollen Sie einfach so gehen?« fragte sie.
»Wie?«
»Unbewaffnet?«
Er lächelte wieder. Sie kam sich, wie schon zuvor, wieder albern vor.
»Ma'am«, sagte er, »ich bin seit fünfundzwanzig Jahren Motelmanager und hatte noch nie einen Gast, mit dem ich nicht fertig geworden bin.«
Quinns herablassender, väterlicher Tonfall erboste Tessa zwar, aber sie stritt nicht mit ihm, sondern folgte ihm aus dem Büro hinaus und durch den wallenden Nebel zum anderen Ende des Gebäudes. Er war groß, sie klein, daher fühlte sie sich ein wenig wie ein kleines Kind, das von einem Vater, der ihr zeigen wird, daß kein Monster im Schrank oder unter dem Bett versteckt, in ihr Zimmer zurückbegleitet wird.
Er machte die Metalltür auf, durch die sie aus dem nördlichen Treppenhaus geflohen war, und trat ein. Dort lauerte niemand.
Der Getränkeautomat summte, von der Eismaschine ging ein leises Klappern aus. Ihr mit Halbmonden gefüllter Kübel stand immer noch obenauf.
Quinn schritt durch den winzigen Raum zur Tür, die zum Erdgeschoßflur führte und zog sie auf. »Niemand da«, sagte er und nickte in den stillen Flur. Er machte auch die Tür in der Westwand auf und sah nach rechts und links. Er winkte sie auf die Schwelle und bestand darauf, daß sie sich ebenfalls vergewisserte.
Sie sah einen schmalen, von einem Geländer begrenzten Weg, der an der rückwärtigen Fassade des Hauses zwischen dem Gebäude und dem Rand der Klippe entlang verlief und an jedem Ende von einer gelblichen Laterne erhellt wurde. Verlassen.
»Sie haben gesagt, Sie hätten bereits Geld in den Automaten gesteckt, aber kein Getränk bekommen?« fragte Quinn, während er die Tür zufallen ließ.
»Ganz recht.«
»Was wollten Sie?«
»Nun... Diet Coke.«
Er drückte den entsprechenden Knopf am Automaten, und eine Dose klapperte in die Ausgabe. Er gab sie ihr, deutete auf den Kübel, den sie von ihrem Zimmer mitgebracht hatte, und sagte: »Vergessen Sie Ihr Eis nicht.«
Tessa trug den Eiskübel und die Dose und folgte ihm mit heißer Röte auf den Wangen und kalter Wut im Herzen die Nordtreppe hinauf. Niemand lauerte dort. Die ungeölten Scharniere der Feuertür quietschten, als sie in den Flur im ersten Stock traten, der ebenfalls verlassen war.
Die Tür ihres Zimmers war angelehnt, wie sie sie hinterlassen hatte. Sie zögerte einzutreten.
»Sehen wir nach«, sagte Quinn.
Das kleine Zimmer, der Schrank und das angrenzende Badezimmer waren leer.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte er.
»Ich habe mir nichts eingebildet.«
»Das habe ich auch nicht gesagt«, sagte er, immer noch väterlich.
Als Quinn auf den Hur hinausging, sagte Tessa: »Sie waren da, und sie waren echt, aber ich schätze, jetzt sind sie verschwunden. Sie sind wahrscheinlich weggelaufen, als ihnen klar wurde, daß ich sie entdeckt hatte und Hilfe holen ging.«
»Nun, dann ist jetzt ja alles gut«, sagte er. »Sie sind in Sicherheit. Wenn sie weg sind, dann ist das fast so gut, als wären sie überhaupt nicht dagewesen.«
Es kostete Tessa alle Anstrengung, nicht mehr zu sagen als »vielen Dank«, und dann die Tür zuzumachen. In dem Knauf befand sich ein Druckschloß, das sie hineindrückte. Über dem Knauf befand sich ein Riegel, den sie vorschob. Auch eine Sicherungskette war vorhanden; sie hängte sie ein.
Sie ging ans Fenster und vergewisserte sich, daß es von einem potentiellen Eindringling nicht so leicht geöffnet werden könnte. Als sie auf einen Hebel drückte und zog, glitt die Hälfte des Fensters nach links, aber es konnte nicht von außen geöffnet werden, es sei denn, jemand schlüge die Scheibe ein und streckte die Hand herein, um das Schloß aufzudrehen. Zudem war sie im ersten Stock; ein Eindringling hätte eine Leiter gebraucht.