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Opfer: elf.

»In dieser Stadt findet eine unchristliche Zahl von Einäscherungen statt«, sagte Sam laut und drehte die leere Bierflasche in der Hand.

Die meisten Menschen legten immer noch Wert darauf, daß ihre Liebsten oder sie selbst im Sarg bestattet wurden, wie auch immer der Leichnam aussehen mochte. In den meisten Städten machten Verbrennungen wahrscheinlich ein Viertel oder ein Fünftel der Bestattungen aus.

Als das FBI schließlich im Fall Bustamente-Sanchez ermittelte, fanden die Männer aus San Francisco heraus, daß Jani-ce Capshaw als Valium-Selbstmörderin aufgeführt war. Ihr vom Meer gezeichneter Leichnam war zwei Tage nach ich-rem Verschwinden ans Ufer gespült worden, drei Tage, bevor die Agenten eintrafen, um den Tod der drei Organisatoren zu überprüfen.

Julio Bustamente, Maria Bustamente, Ramon Sanchez, die vier Maysers, Jim Armes, Paula Parkins, Steve Heinz, Laura Dalcoe, Janice Capshaw: zwölf Opfer in weniger als einem Monat - genau zwölfmal soviel gewaltsame Tode, wie in Moonlight Cove in den vorangegangenen dreiundzwanzig Monaten geschehen waren. Bei einer Bevölkerung von gerade dreitausend waren zwölf gewaltsame Todesfälle in nur drei Wochen eine verdammt hohe Sterblichkeitsrate.

Als man ihn nach seiner Reaktion auf diese erstaunliche Kette tödlicher Ereignisse gefragt hatte, hatte Polizeichef Loman Watkins gesagt: »Ja, das ist schrecklich. Und es ist ir-gendwie beängstigend. Aber hier war alles so lange ruhig und friedlich, daß wir wohl statistisch einfach überfällig sind.«

Aber selbst über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg schössen zwölf so gewaltsame Todesfälle in einer Stadt dieser Größe statistisch vollkommen über die Norm hinaus.

Das sechsköpfige Team des Bureau fand nicht den Hauch eines Beweises, daß die hiesigen Behörden etwas mit diesen Fällen zu tun hätten. Der Lügendetektor war zwar kein vollkommen zuverlässiger Wahrheitsfinder, aber die Technologie war hinreichend fortgeschritten, so daß Loman Watkins, seine Beamten, der Gerichtsmediziner und sein Assistent ihn unmöglich alle ohne eine einzige Anzeige von Täuschung hätten passieren können, wenn sie tatsächlich schuldig wären.

Trotzdem...

Zwölf Tote. Vier bei einem Hausbrand verbrannt. Drei in einem schrottreifen Chevy-Lieferwagen verbrannt. Drei Selbstmorde, zwei mit Schrotflinte, einer mit Valium, alle danach in Callans Bestattungsinstitut eingeäschert. Und das einzige Opfer, das für eine Untersuchung zur Verfügung stand, schien nicht von Hunden getötet worden zu sein, wie der Gerichtsmediziner behauptete, obwohl es von etwas gebissen und zerfetzt worden war, verdammt .

Das alles reichte aus, daß das Bureau die Akte offen ließ. Am neunten Oktober, vier Tage, nachdem das Team aus San Francisco Moonlight Cove verlassen hatte, wurde die Entscheidung gefällt, einen Spitzel in die Stadt zu schicken, der sich bestimmte Aspekte der Fälle ansehen sollte, die von einem Mann, der beobachtet wurde, nicht so gut untersucht werden konnten.

Einen Tag nach der Entscheidung, am 10. Oktober, wurde dem Büro in San Francisco ein Brief zugestellt, der die Entschlossenheit des Bureau, an dem Fall dranzubleiben, noch steigerte. Sam hatte sich auch diesen Brief eingeprägt:

Sehr geehrte Herren,

Ich verfüge über Informationen bezüglich einiger jüngster Todesfälle in der Stadt Moonlight Cove. Ich habe Grund zu der Vermutung, daß die hiesigen Behörden an einer Verschwörung mit dem Ziel, Morde zu vertuschen, beteiligt sind.

Ich würde es vorziehen, wenn Sie sich mit mir persönlich in Verbindung setzen würden, da ich nicht sicher bin, ob unser Telefon hier nicht abgehört wird. Ich muß Sie um völlige Diskretion bitten, da ich ein behinderter VietnamVertreter mit gravierenden körperlichen Schäden bin und naturgemäß um die Fähigkeit besorgt bin, mich ggf. selbst zu schützen.

Er war mit Harry G. Talbot unterschrieben.

Aus den Unterlagen der Armee der Vereinigten Staaten ging hervor, daß Talbot tatsächlich ein behinderter VietnamVeteran war. Er war mehrfach für Tapferkeit im Gefecht ausgezeichnet worden. Morgen wollte Sam ihn unauffällig besuchen.

Momentan dachte er noch darüber nach, was er heute nacht noch alles zu tun hätte, und fragte sich, ob er es riskieren könnte, zu dem, was er im Restaurant getrunken hatte, noch eine Flasche Guinness zu trinken. Der Sechserpack stand vor ihm auf dem Tisch. Er sah ihn lange an. Guinness, gutes mexikanisches Essen, Goldie Hawn und Angst vor dem Sterben. Das mexikanische Essen hatte er im Bauch, aber der Geschmack war vergessen. Goldie Hawn wohnte irgendwo mit Kurt Russell, den sie als Zeichen schlechten Geschmacks einem durchschnittlich aussehenden, vernarbten, von jeglicher Hoffnung verlassenen FBI-Agenten vorgezogen hatte, auf einer Ranch. Er dachte an die zwölf toten Männer und Frauen, an Leichen, die in einem Krematorium brannten, bis sie zu Knochensplittern und Asche geworden waren, und er dachte an Mord und Selbstmord mit einer Schrotflinte, an von Fischen angenagte Leichen und an eine bös zerfleischte Frau, und diese Gedanken führten ihn allesamt zu einem morbiden Philosophieren über den Weg allen Fleisches. Er dachte an seine Frau, die an Krebs gestorben war, und er dachte an Scott und an seine Unterhaltung mit ihm per Ferngespräch, und da machte er schließlich die zweite Flasche Bier auf.

22

Verfolgt von imaginären Spinnen, Schlangen, Käfern, Ratten, Fledermäusen und dem möglicherweise imaginären wiederbelebten Leichnam eines toten Kindes, sowie vom echten, aber drachenähnlichen Brüllen ferner Trucks, kroch Chrissie aus dem Nebenrohr, in dem sie Zuflucht gesucht hatte, ging trollgleich das Hauptrohr entlang, trat wieder in die glitschigen Überreste des toten Waschbären und sprang schließlich in den Abflußkanal mit seinen schrägen Betonwänden hinaus. Die Luft war rein und angenehm. Chrissies Klaustrophobie ließ trotz der zweieinhalb Meter hohen Mauern des Grabens, des vom Nebel gefilterten Mondlichts und der verborgenen Sterne nach. Sie sog die kalte, feuchte Luft tief ein, versuchte aber, so leise wie möglich zu atmen. Sie lauschte in die Nacht und wurde nicht lange danach mit diesen seltsamen Rufen belohnt, die von Süden leise aus dem Wald über die Wiese hallten. Sie war, wie schon zuvor, sicher, daß sie drei veschiedene Stimmen unterscheiden konnte. Wenn ihr Vater, ihre Mutter und Tucker im Süden waren und in dem Wald, der bis zum Rand des Geländes von New Wave Mikrotechnologie verlief, nach ihr suchten, konnte sie vielleicht in die Richtung zurückkehren, aus der sie gekommen war, durch den nördlichen Wald zu der Wiese, wo Godiva sie abgeworfen hatte, dann nach Osten zur Country Road und von da nach Moonlight Cove hinein; die anderen würden vergeblich am falschen Ort suchen.

Sie konnte ganz sicher nicht dort bleiben, wo sie war.

Und sie konnte nicht nach Süden laufen, ihnen direkt in die Arme treiben.

Sie kletterte aus dem Graben und lief nach Norden über die Wiese, wobei sie den gleichen Weg wie vorhin einschlug, und während sie lief, summierte sie ihr Elend. Sie hatte Hunger, nichts zu essen und war müde. Die Muskeln in ihren Schultern und dem Rücken waren verkrampft, weil sie so lange in dem engen, kalten Nebenrohr gelegen hatte. Ihre Beine schmerzten.

Und wo liegt das Problem? fragte sie sich, als sie die Baume am Rand der Wiese erreichte. Wärst du lieber von Tuk-ker erwischt und in einen von ihnen >verwandelt< worden?

23

Loman Watkins verließ das Haus der Valdoskis, wo Dr. Worthy sich um die Verwandlung von Nella und George kümmerte. Weiter unten an der Straße luden seine Leute und der Gerichtsmediziner den toten Jungen auf den Leichenwagen. Die Menge der Schaulustigen verfolgte die Szene gebannt.