Schreckgespenster. Harry s Herz schlug schneller.
Er hatte ihresgleichen in den vergangenen vier Wochen dreimal gesehen, aber beim ersten Mal hatte er nicht geglaubt, was er gesehen hatte. Sie waren so schattenhaft und seltsam gewesen, und er hatte sie nur so kurz gesehen, daß sie wie Phantome der Einbildung wirkten; daher nannte er sie Schreckgespenster.
Sie waren schneller als Katzen. Sie hasteten durch seinen Sehbereich und verschwanden im dunklen, freien Platz, bevor er seine Überraschung überwinden und ihnen folgen konnte.
Danach suchte er das Grundstück von einem Ende zum anderen und von vorne nach hinten ab, um sie in dem fast einen Meter hohen Gras zu entdecken. Auch Büsche boten ihnen Verstecke. Wilder Holunder und ein paar vereinzelte Chaparralbüsche ragten auf und hielten den Nebel fest, als wäre er Baumwolle.
Aber er fand sie. Zwei gebückte Gestalten. Mannsgroß. Nur etwas weniger schwarz als die Nacht. Konturlos. Sie kauerten im trockenen Gras in der Mitte des Grundstücks, nördlich einer gewaltigen Fichte, die ihre Zweige (allesamt hoch oben) wie einen Baldachin über das halbe Gelände breitete.
Harry stellte die Vergrößerung zitternd auf diesen speziellen Ausschnitt und justierte den Brennpunkt. Die Umrisse der Schreckgespenster wurden scharf. Ihre Körper wurden blasser im Kontrast zur Nacht um sie herum. Aber wegen der Dunkelheit und dem Nebel konnte er immer noch keine Einzelheiten erkennen.
Es war ziemlich teuer und schwer zu bekommen, trotzdem wünschte er sich jetzt, er hätte durch seine Beziehungen zum Militär ein Tele-Tron erstanden, eine neue Version des Star-Tron-Nachtsichtgeräts, das jahrelang von den meisten Streitkräften benutzt worden war. Ein Star-Tron nahm vorhandenes Licht - Mondlicht, Sternenlicht, schwaches elektrisches Licht, sofern vorhanden, die vage natürliche Strahlung bestimmter Mineralien in Krume und Felsen -und verstärkte es fünfundachtzigtausendfach. Mit diesem Gerät ließ sich eine undurchdringliche Nachtschwärze in zwielichtige Dämmerung oder gar spätnachmittägliches Grau aufhellen. Das Tele-Tron verwendete dieselbe Technologie wie das Star-Tron, aber es war entwickelt worden, damit es zu Teleskopen paßte. Das gewöhnlich vorhandene Licht reichte für Harrys Zwecke aus, und er sah meistens durchs Fenster in hell erleuchtete Zimmer; aber um die verstohlenen und schnellen Schreckgespenster zu studieren, hätte er High-Tech-Hilfe gebraucht.
Die schemenhaften Gestalten sahen nach Westen zur Juniper Lane, dann nach Norden zu Callans Institut, dann nach Süden zu dem Haus, das, neben dem Bestattungsinstitut, das unbebaute Grundstück flankierte. Sie drehten die Köpfe mit raschen, geschmeidigen Bewegungen, die Harry an Katzen denken ließen, obwohl sie eindeutig nicht katzenhaft waren. Einer sah nach Osten zurück. Weil Harry mit dem Teleskop praktisch mit den Schreckgespenstern auf der Wiese stand, sah er deren Augen - blaßgolden, schwach leuchtend. Er hatte vorher noch nie ihre Augen gesehen. Er erschauerte, aber nicht nur, weil sie so ungewöhnlich waren. Diese Augen hatten etwas Vertrautes, etwas, das tiefer als Harrys bewußter oder-unbewußter Verstand reichte und vages Erkennen und primitive, in seinen Genen gespeicherte Rassenerinnerung auslöste.
Plötzlich war ihm kalt bis auf die Knochen, und er verspürte eine Angst, die schlimmer war als alles, was er seit Vietnam erlebt hatte.
Moose war, obwohl er döste, empfänglich für die Stimmungen seines Herrn. Der Labrador stand auf, schüttelte sich, wie um den Schlaf abzuschütteln, und kam zum Stuhl. Er gab einen leisen, winselnden, fragenden Laut von sich.
Hany sah das Alptraumgesicht eines Schreckgespenstes durch das Teleskop. Er erblickte es nur einen Augenblick lang, bestenfalls zwei Sekunden, und das mißgestaltete Gesicht wurde kaum von ätherischem Mondschein erhellt, daher sah er nur wenig; tatsächlich offenbarte das unzureichende Mondlicht das Ding nicht, sondern trug nur dazu bei, es noch geheimnisvoller zu machen.
Aber er war fasziniert davon, gebannt, erstarrt.
Moose fragte ein fragendes: »Wuff?«
Einen Augenblick lang hätte Harry das Teleskop nicht loslassen können, auch wenn sein Leben davon abhängig gewesen wäre, und er studierte das affenähnliche Antlitz, obwohl es häßlicher und teuflischer und unendlich viel seltsamer als das Gesicht eines Affen war. Er fühlte sich an Wölfe erinnert, und in der Dunkelheit schien das Ding auch einen reptilienhaften Aspekt zu haben. Er glaubte, den emaillenen Schimmer spitzer Zähne und klaffender Kiefer zu sehen. Aber das Licht war schlecht, und er war nicht si cher, wieviel von dem, was er sah, Täuschung von Schatten oder Verzerrungen des Nebels waren. Ein Teil dieser diabolischen Vision mußte sicher seiner überhitzten Fantasie zugeschrieben werden. Ein Mann mit einem Paar nutzloser Beine und einem toten Arm mußte eine lebhafte Fantasie haben, wenn er durchs Leben kommen wollte.
So plötzlich das Schreckgespenst in seine Richtung gesehen hatte, sah es auch wieder weg. Gleichzeitig bewegten sich die beiden Geschöpft mit einer animalischen Gewandtheit und Schnelligkeit, die Harry verblüffte. Sie waren fast so groß wie Raubkatzen, und ebenso schnell. Er drehte das Teleskop, um ihnen zu folgen, und sie flogen buchstäblich durch die Dunkelheit über das unbebaute Grundstück nach Süden, wo sie über den Lattenzaun in den Garten des Clay-more-Hauses kletterten und mit solcher Schnelligkeit verschwanden, daß er sie nicht im Teleskop behalten konnte.
Er suchte weiter nach ihnen, bis zur High School in der Roshmore Street, aber er sah nur Nacht und Nebel und die vertrauten Gebäude der Nachbarschaft. Die Schreckgespenster waren so schnell verschwunden, wie sie immer aus den Zimmern kleiner Jungs verschwanden, wenn das Licht eingeschaltet wurde.
Schließlich nahm er das Gesicht vom Teleskop und sank auf den Stuhl zurück.
Moose stieg sofort mit den Vorderpfoten auf die Armlehne und bettelte darum, gestreichelt zu werden, als hätte er gesehen, was sein Herrchen gesehen hatte, und brauchte die Bestätigung, daß böse Geister nicht in Wirklichkeit durch die Welt streiften.
Harry streichelte den Kopf des Labradors mit der guten rechten Hand, die anfangs stark zitterte. Nach einer Weile beruhigte ihn das Streicheln fast ebensosehr wie den Hund. Wenn das FBI auf den Brief reagierte, den er vor über einer Woche geschrieben hatte, wußte er nicht, ob er die Schreckgespenster erwähnen würde. Er würde ihnen alles erzählen, was er gesehen hatte, und vieles konnte nützlich für sie sein. Aber das... Einerseits war er sicher, daß die Bestien, die er mittlerweile viermal so flüchtig zu Gesicht bekommen hatte, irgendwie mit den seltsamen Ereignissen der vergangenen Wochen zusammenhingen. Aber sie lagen in einer anderen Größenordnung des Seltsamen, und wenn er von ihnen sprach, würde er vielleicht wunderlich, wenn nicht gar verrückt wirken, so daß die Agenten der Bureaus alles andere anzweifeln könnten, was er zu sagen hatte.
Bin ich wunderlich? fragte er sich, während er Moose tätschelte. Bin ich verrückt?
Nachdem er zwanzig Jahre an den Rollstuhl und ans Haus gefesselt war und praktisch nur durch das Teleskop und das Fernglas lebte, war er vielleicht so verzweifelt darauf aus, zur Welt zu gehören und so gierig nach Aufregung, daß er sich eine gigantische Verschwörungsfantasie am Rande des Unheimlichen zusammengereimt hatte, sich selbst als >Mann der Bescheid weiß< ins Zentrum rückte und davon überzeugt war, seine Trugbilder wären real. Aber das war höchst unwahrscheinlich. Der Krieg hatte seinen Körper verkrüppelt und schwach gemacht, aber sein Verstand war so scharf und klar wie immer, vielleicht durch das Unglück noch ausgeprägter und schneller. Das war sein Fluch, nicht der Wahnsinn.
»Schreckgespenster«, sagte er zu Moose.
Der Hund hechelte.
»Was kommt als nächstes? Werde ich eines Tages zum Mond aufsehen und eine Hexe auf dem Besenstiel erblik-ken?«
25
Chrissie kam am Pyramid Rock, der einst ihre Fantasie beflügelt hatte, sich zentimetergroße Ägypter vorzustellen, aus dem Wald heraus. Sie sah nach Westen, zum Haus und den Foster-Stallungen, wo die Lichter jetzt im Nebel regenbogenfarbene Auren hatten. Einen Augenblick später spielte sie mit dem Gedanken, dorthin zurückzukehren und Godiva oder ein anderes Pferd zu holen. Vielleicht konnte sie sich sogar ins Haus schleichen und eine Jacke holen. Aber sie entschied, daß sie zu Fuß sicherer und nicht so auffällig sein würde. Außerdem war sie nicht so dumm wie die Filmheldinnen, die immer wieder zum Bösen Haus zurückkehrten, obwohl sie wußten, daß das Böse Ding sie dort wahrscheinlich finden würde. Sie wandte sich nach Ost-Nordost und lief über die Wiese zur Landstraße.