Dank ihrer üblichen Klugheit - dachte sie, als würde sie eine Zeile aus einem Abenteuerroman lesen - wandte sich Chrissie schlau von dem verfluchten Haus ab und floh in die Nacht, und sie fragte sich, ob sie diesen Ort ihrer Jugend jemals wiedersehen oder Trost in den Armen ihrer jetzt entfremdeten Familie finden würde.
Hohes, herbstlich trockenes Gras schlug gegen ihre Beine, als sie zur Mitte des Feldes lief. Sie hielt sich nicht an der Baumgrenze, sondern wollte im offenen Gelände sein, damit sie nicht von etwas von den Bäumen herab angesprungen würde. Sie glaubte nicht, daß sie ihnen entkommen könnte, wenn sie sie erst einmal entdeckt hätten, nicht einmal, wenn sie Minuten Vorsprung hätte, aber sie wollte sich wenigstens die Chance lassen, es zu versuchen.
Während sie in dem Rohr Zuflucht gesucht hatte, war die Nacht noch kälter gewesen. Ihr Flanellhemd schien nicht mehr zu wärmen als eine kurzärmelige Sommerbluse. Wäre sie eine Heldin der Art, wie sie Ms. Andre Norton schuf, dann wüßte sie, wie sie sich aus Gras und anderen Pflanzen einen Mantel mit hohem Isolierfaktor weben könnte. Oder sie wüßte, wie man Pelztiere fing und schmerzlos tötete, wie man ihre Felle gerbte und zusammennähte, um sich in Gewänder zu hüllen, die ebenso erstaunlich modisch wie praktisch waren.
Sie mußte einfach aufhören, an die Heldinnen dieser Bücher zu denken. Ihre vergleichsweise Unfähigkeit deprimierte sie.
Und sie hatte schon genügend Gründe, deprimiert zu sein. Sie war aus ihrem Haus vertrieben worden. Sie war allein, hungrig, fror, war verwirrt und hatte Angst - und sie wurde von unheimlichen und gefährlichen Kreaturen verfolgt. Und das Wesentliche... ihre Mutter und ihr Vater waren stets ein wenig distanziert gewesen, sie hatten ihre Zuneigung nie sehr deutlich zur Schau gestellt, dennoch hatte Chrissie sie geliebt, und jetzt waren sie dahin, vielleicht für immer, auf eine Weise verwandelt, die sie nicht verstand, lebend, aber ohne Seele, und damit so gut wie tot.
Als sie noch schätzungsweise dreißig Meter von der zweispurigen Landstraße entfernt war, die hier parallel zur Einfahrt verlief, hörte sie einen Automotor. Sie sah Scheinwerfer auf der Straße, die von Süden kamen. Dann sah sie das Auto selbst, denn in dieser Richtung war der Nebel dünner als in Richtung Meer, daher war die Sicht einigermaßen gut. Sie konnte selbst auf diese Entfernung erkennen, daß es sich um einen Streifenwagen handelte; die Sirene war zwar nicht eingeschaltet, aber blau und rote Lichter blinkten auf dem Dach. Der Streifenwagen bremste und bog in den Zufahrtsweg zu den Foster-Stallungen ein.
Chrissie hätte beinahe gerufen, wäre beinahe zu dem Auto gelaufen, weil man ihr stets beigebracht hatte, daß Polizisten Freunde waren. Sie hob sogar schon eine Hand und winkte, aber dann überlegte sie sich, daß sie in einer Welt, in der sie nicht einmal ihren eigenen Eltern trauen konnte, schon gar nicht davon ausgehen durfte, daß Polizisten nur ihr Bestes wollten.
Beunruhigt von dem Gedanken, daß die Polizisten >ver-wandelt< worden sein konnten, so wie Tucker sie verwandeln wollte und wie ihre Eltern verwandelt worden waren, ließ sie sich fallen und kauerte sich im hohen Gras nieder. Als das Auto in die Einfahrt ein gebogen war, hatten die Scheinwerfer sie nicht einmal gestreift. Dunkelheit und Nebel machten sie zweifellos unsichtbar für die Insassen des Streifenwagens, und sie war nicht gerade so ungeheuer groß, daß man sie auf ebenem Land deutlich hätte sehen können. Aber sie wollte kein Risiko eingehen.
Sie sah dem Auto nach, das den langen Zufahrtsweg entlangfuhr. Neben Tuckers Auto, das auf halbem Weg abgestellt war, hielt es kurz an und fuhr dann weiter. Der dichtere Nebel im Westen verschluckte es.
Sie erhob sich aus dem Gras und eilte weiter nach Osten, zur Landstraße. Sie wollte der Straße nach Süden folgen, bis nach Moonlight Cove. Wenn sie wachsam und aufmerksam bliebe, könnte sie von der Straße herunter in den Graben oder hinter ein Gebüsch kriechen, wenn sie näherkommenden Verkehr hörte.
Sie wollte sich niemandem zeigen, den sie nicht kannte. Wenn sie in der Stadt wäre, könnte sie zur Our Lady of Mer-cy Kirche gehen und Hilfe bei Pater Castelli suchen. (Er sagte, er wäre ein moderner Priester und wollte lieber Pater Jim genannt werden, aber Chrissie hatte ihn nie so formlos anreden können.) Chrissie war beim Sommerfest der Kirche eine unermüdliche Arbeiterin gewesen, und sie hatte sehr zu Pater Castellis Entzücken den Wunsch geäußert, daß sie nächstes Jahr Altarmädchen sein wollte. Sie war sicher, er mochte sie und würde ihre Geschichte glauben, wie unglaublich sie sich auch anhören würde. Wenn er ihr nicht glaubte... nun, dann würde sie es bei Mrs. Tokawa versuchen, ihrer Lehre -rin der sechsten Klasse.
Sie kam zur Landstraße, verharrte und sah zu dem fernen Haus zurück, das nur noch eine Ansammlung leuchtender Pünktchen im Nebel war. Sie wandte sich erschauernd nach Süden, Richtung Moonlight Cove.
26
Die Eingangstür des Foster-Hauses war der Nacht geöffnet. Loman Watkins durchsuchte es von unten nach oben und wieder zurück. Die einzigen merkwürdigen Dinge, die er fand, waren ein umgekippter Stuhl in der Küche und Jack Turners schwarze Tasche voll Spritzen und Phiolen der Droge, mit der die Verwandlung bewerkstelligt wurde - eine Sprühdose WD-40 auf dem Boden des Erdgeschoßflurs.
Er machte die Eingangstür hinter sich zu, trat auf die Veranda, blieb auf den Stufen zum Vorgarten stehen und lauschte in die ätherisch stille Nacht. Ein träger Wind war während der gesamten Nacht in Böen gekommen und gegangen, aber jetzt hatte er völlig nachgelassen. Die Luft war unheimlich still. Der Nebel schien alle Laute zu dämpfen und machte die Welt so still, als wäre sie ein einziger unermeßlicher Friedhof.
Loman sah zu den Ställen und rief: »Tucker! Foster! Ist jemand da?«
Das Echo seiner Stimme hallte zu ihm zurück. Es war ein kalter, einsamer Laut.
Niemand antwortete ihm.
»Tucker? Fester?«
In einem der Ställe brannte Licht, am näher gelegeneren Ende stand die Tür offen. Er dachte, daß er hingehen und sich das ansehen sollte.
Loman hatte den halben Weg zurückgelegt, als ein hallender Schrei, dem zitternden Ton eines fernen Horns nicht unähnlich, vom Süden ertönte, leise aber unmißverständlich. Er war schrill und dennoch kehlig, und voll Zorn, Sehnsucht, Erregung und Begierde. Der Schrei von Regressiven bei der Jagd.
Ihre Schreie machten ihn frösteln.
Und erfüllten ihn mit einer seltsamen Sehnsucht.
Nein.
Er ballte die Hände so fest zu Fäusten, daß sich die Fingernägel in die Handflächen gruben, und drängte die Dunkelheit zurück, die in ihm emporwallen wollte. Er versuchte, sich auf Polizeiarbeit und die naheliegenden Probleme zu konzentrieren.
Wenn die Schreie von Alex Fester, Sharon Foster und Jack Tucker kamen - was höchstwahrscheinlich der Fall war -, wo war dann Christine, das Mädchen?
Vielleicht war sie entkommen, als sie ihre Verwandlung vorbereitet hatten. Der umgekippte Küchenstuhl, Tuckers einsame schwarze Tasche und die offene Eingangstür schienen diese beunruhigende Erklärung zu unterstützen. Bei der Verfolgung des Mädchens und in der Aufregung der Jagd hatten die Fosters und Tucker vielleicht dem latenten Drang zur Regression nachgegeben. Dem möglicherweise gar nicht so latenten Drang. Sie hatten vielleicht schon früher Regressionen durchgemacht und sich diesmal rasch und willig dem veränderten Stadium ergeben. Und jetzt jagten sie Christine in der Wildnis im Süden - oder hatten sie schon längst erwischt und in Stücke gerissen und waren immer noch regressiv, weil sie dunkle Erregung an dieses niedere Stadium empfanden.