Daher aß er jetzt den Schinken, zwei Pfund Schinken, und er riß andere Sachen aus dem Kühlschrank und aß sie auch, stopfte sie sich mit beiden Händen in den Mund: eine Schüssel kalte, übriggebliebene Rigatoni und einen Fleisch-klops; einen halben Apfelkuchen, den er gestern in der Bäckerei in der Stadt gekauft hatte; einen Riegel Butter, das ganze Viertelpfund, fettig und widerlich, aber gute Nahrung, guter Treibstoff, genau das Richtige, das Feuer zu löschen; vier rohe Eier; und noch mehr, mehr. Dies war ein Feuer, das, wenn man es mit Nahrung versorgte, nicht heller brannte, sondern abkühlte, erlosch, denn es war kein richtiges Feuer, sondern ein körperliches Symbol des verzweifelten Nahrungsbedarfs, um die Stoffwechselvorgänge am Laufen zu halten. Jetzt verlor das Feuer etwas von seiner Hitze, es schrumpfte von sengender Glut zu tanzenden Flämmchen, zu wenig mehr als bernsteinfarbener Glut von Kohlen.
Mike Peyser brach gestättigt inmitten von zerbrochenen Tellern und Nahrungsresten und Zellophan und Eierschalen und Tupperschüsseln auf dem Boden zusammen. Er rollte sich zusammen und versuchte wieder, sich vermittels Willenskraft in die Gestalt zurückzuverwandeln, in der die Welt ihn erkennen würde. Und er spürte wieder, wie eine Veränderung in seinen Knochen und dem Mark anfing, in seinem Blut und den Organen, in Sehnen und Blutgefäßen und Muskeln und der Haut, als die Flut von Hormonen und Enzymen und anderen biologischen Chemikalien von seinem Körper produziert und ausgeschüttet wurde, aber die Veränderung wurde wieder aufgehalten, als die Verwandlung noch schmerzlich unvollständig war, und sein Körper verfiel wieder in das wildere Dasein und durchlief unweigerlich die Regression, obwohl er alle Willenskraft aufbot, alle Willenskraft, alle Willenskraft und sich bemühte, in die höhere Gestalt zu gelangen.
Die Kühlschranktür war zugefallen. Die Küche war wieder in Dunkelheit versunken, und Mike Peyser war zumute, als wäre die Dunkelheit nicht nur überall rings um ihn herum, sondern auch in ihm selbst.
Schließlich schrie er. Und es kam, wie er befürchtet hatte; als er erst einmal angefangen hatte zu schreien, konnte er nicht mehr damit aufhören.
28
Sam Booker verließ das Cove Lodge kurz vor Mitternacht. Er trug eine brauen Lederjacke, einen blauen Pullover, Jeans und blaue Turnschuhe - Kleidung, die es ihm ermöglichte, gut in der Nacht unterzutauchen, die aber nicht verdächtig aussah, bestenfalls ein wenig zu jugendlich für einen Mann mit seinem melancholischen Gebaren. So gewöhnlich sie aussah, die Jacke hatte eine Reihe Tiefer und geräumiger Innentaschen, in die er ein paar Einbruch- und Autodiebstahlswerkzeuge einpackte. Er ging die Südtreppe hinunter, zur rückwärtigen Erdgeschoßtür hinaus und blieb einen Augenblick auf dem Fußweg hinter der Lodge stehen.
Dichter Nebel quoll über den Klippenrand herauf und durch das offene Gelände, er wurde von einer plötzlichen Brise getrieben, die schließlich doch noch die Ruhe der Nacht gestört hatte. In ein paar Stunden würde der Wind den Nebel landeinwärts geweht haben und der Küstenstreifen vergleichsweise klar sein. Bis dahin würde Sam die vor ihm liegende Aufgabe erledigt haben und den Schutz, den der Nebel bot, nicht mehr benötigen; er würde im Bett seines Motelzimmers schlafen - oder, wahrscheinlicher, gegen Schlaflosigkeit kämpfen.
Er war unruhig. Er hatte die Jugendbande nicht vergessen, vor der er vor ein paar Stunden auf dem Iceberry Way geflohen war. Da ihre wahre Natur ein Geheimnis blieb, betrachtete er sie weiterhin als Punks, aber er wußte, daß es sich nicht nur um Jugendkriminelle gehandelt haben konnte. Seltsamerweise hatte er den Eindruck, als wüßte er, was sie waren, aber dieses Wissen regte sich sogar noch tief unter der Ebene des Unterbewußtseins, im Reich eines primitiven Bewußtseins.
Er ging um die Südecke des Gebäudes herum, an der Rückseite der Cafeteria vorbei, die jetzt geschlossen hatte, und erreichte zehn Minuten später auf einem Rundweg das Rathaus von Moonlight Cove in der Jacobi Street. Es war genau, wie die San Franciscoer Agenten des Bureau es beschrieben hatten: ein zweistöckiges Bauwerk - am unteren Stockwerk verwitterte Backsteine, am oberen weißer Verputz - mit Ziegeldach, waldgrünen Fensterläden neben den Fenstern und großen schmiedeeisernen Kutschenlaternen neben der Eingangstür. Das Rathaus und das Grundstück, auf dem es erbaut worden war, beanspruchten einen halben Block an der Nordseite der Straße, aber die anti-behördliche Bauweise harmonierte mit dem Rest der Wohngegend. Selbst um diese Zeit waren im Erdgeschoß und außerhalb die Lichter eingeschaltet, denn das Rathaus beherbergte zusätzlich zur Stadtverwaltung und der Wasserbehörde auch noch das Polizeirevier, und das hatte natürlich nie geschlossen.
Sam, der so tat, als würde er einen nächtlichen Spaziergang machen, studierte das Gebäude, als er auf der anderen Straßenseite daran vorbeiging. Er sah keinerlei außergewöhnliche Aktivität. Der Gehweg vor dem Haupteingang war verlassen. Er sah das hell erleuchtete Foyer durch die Eingangstür.
An der nächsten Ecke bog er nach Norden ab und in eine Gasse in der Mitte des Blocks. Dieser unbeleuchtete Weg wurde von Bäumen und Sträuchern und Zäunen begrenzt, welche zu den Gärten von Häusern an der Jacobi Street und dem Pacific Drive gehörten, dazu einige Garagen und Schuppen, Gruppen von Mülleimern und einem großen, nicht eingezäunten Parkplatz hinter dem Rathaus.
Sam trat in eine Nische in einer zweieinhalb Meter hohen immergrünen Hecke an der Ecke des Hofs, der an das öffentliche Grundstück angrenzte. Der Weg selbst war sehr dunkel, aber zwei Natriumdampflampen warfen einen düsteren Schein über den städtischen Parkplatz und offenbarten zwölf Fahrzeuge: vier neue Fords in der nüchternen, kotzgrünen Variante, die für Bundes-, Landes- und Kreis -verwaltungen hergestellt wurden; ein Lieferwagen, der das Wappen der Stadt und die Aufschrift WASSERBEHÖRDE trug; ein massiger Straßenreinigungswagen; ein großer Lastwagen mit Holzseiten und Heckklappe; und vier Polizeiautos, allesamt Chevy-Limousinen.
Dieses Quartett schwarzweißer Fahrzeuge interessierte Sam ganz besonders, weil sie mit VDT-Verbindungen zum Zentralcomputer der Polizei ausgerüstet waren. Moonlight Cove besaß acht Streifenwagen, ziemlich viel für eine verschlafene Küstenstadt, fünf mehr als sich Städte vergleichbarer Größe leisten konnten und sicherlich größtenteils überflüssig.
Aber in diesem Polizeirevier war alles besser und größer als notwendig, was mit dazu beigetragen hatte, in den Köpfen der FBI-Agenten, die den Tod von Sanchez und den Bus-tamentes untersucht hatten, lautlose Alarmsirenen losgehen zu lassen. Moonlight Cove verfügte über zwölf Vollzeit- und drei Teilzeitpolizisten, dazu vier Verwaltungsbeamte. Eine Menge Personal. Darüber hinaus erhielten alle Gehälter, die mit denen von Polizisten in Großstädten der Westküste vergleichbar waren, und damit ruinös für eine Kleinstadt wie diese. Sie hatten die besten Uniformen, die besten Büromö -bel, eine kleine Waffenkammer voll Faustfeuerwaffen und Gewehren und Tränengas, und - am erstaunlichsten - sie waren in einem Maße computerisiert, um das die Jungs in den Ende-der-Welt-Bunkern des Strategischen Luftkommandos in Colorado sie beneidet hätten.
Sam studierte in der raschelnden Nische des duftenden Immergrüns den Parkplatz mehrere Minuten lang, um sich zu vergewissern, daß niemand in einem der Fahrzeuge saß oder im dunklen Schatten am hinteren Teil des Gebäudes stand. Vor den erleuchteten Fenstern im Erdgeschoß waren Vorhänge zugezogen, daher konnte niemand von drinnen auf den Parkplatz sehen.