Die Tür erbebte wieder. Das Poltern war so laut, daß sich Tessa wie in einer Trommel fühlte. Dank des Stuhls würde sie nicht so leicht nachgeben wie die Tür des anderen Zimmers, aber sie würde auch nur noch ein paar Stöße aushalten.
Sie setzte sich auf den Sims, schwang die Beine hinaus und sah nach unten. Der nebelfeuchte Fußweg glänzte im gelblichen Schein der Laternen etwa dreieinhalb Meter unter dem Fenster. Ein leichter Sprung.
Sie schlugen wieder gegen die Tür. Holz splitterte.
Tessa stieß sich vom Fenstersims ab. Sie landete auf dem nassen Weg und rutschte zwar, fiel aber aufgrund der gerillten Gummisohlen nicht hin.
Oben, im Zimmer, aus dem sie geflohen war, splitterte Holz lauter als vorher, belastetes Metall kreischte, als das Schloß nachzugeben begann.
Sie war nahe beim nördlichen Ende des Gebäudes. Sie glaubte zu sehen, wie sich in dieser Richtung etwas in der Dunkelheit bewegte. Es konnte nichts weiter als ein Nebelschwaden gewesen sein, der vom Wind ostwärts geweht worden war, aber sie wollte kein Risiko eingehen, daher lief sie nach Süden, und das endlos schwarze Meer jenseits des Geländes war rechts von ihr. Als sie das Ende des Gebäudes erreicht hatte, hallte ein Bersten durch die Nacht - die Tür zu ihrem Zimmer brach -, und es folgte das Heulen der Meute, als sie auf der Suche nach ihr eindrang.
35
Sam hätte nicht aus dem Auto herausgekonnt, ohne Danber-rys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Vier Streifenwagen standen dem Polizisten zur Verfügung, daher hatte Sam eine Chance von fünfundsiebzig Prozent, daß er unentdeckt bleiben würde, wenn er im Auto bliebe. Er glitt, so weit er konnte, auf dem Fahrersitz hinab und lehnte sich nach rechts, über die Computertastatur am Armaturenbrett.
Danberry ging zum nächsten Auto in der Reihe.
Sam preßte den Kopf auf die Konsole und verdrehte den Hals, so daß er zum Beifahrerfenster hinaussehen konnte; er beobachtete, wie Danberry die Tür des anderen Streifenwagens auf schloß. Er betete, daß ihm der Polizist auch weiterhin den Rücken zukehren würde, denn das Innere des Autos, in dem Sam lag, wurde vom schwefligen Schein der Parkplatzleuchten erhellt. Wenn Danberry in seine Richtung sähe, würde er Sam entdecken.
Der Polizist stieg in den Streifenwagen ein und schlug die Tür zu, und Sam seufzte erleichtert. Der Motor sprang an. Danberry fuhr vom Parkplatz. Als er auf der Straße war, jagte er den Motor hoch, die Reifen drehten einen Augenblick durch und quietschten, bevor sie faßten, und dann war er verschwunden.
Sam wollte das Auto noch einmal kurzschließen und her-ausfinden, ob Watkins und Shaddack immer noch miteinander in Verbindung waren, aber er wußte, er durfte es nicht wagen, noch länger zu bleiben. Wenn die Menschenjagd weiterginge, würden sicher noch mehr Polizisten zum Einsatz kommen.
Weil er sie nicht wissen lassen wollte, daß er in ihrem Computer spioniert oder ihre Unterhaltung belauscht hatte
- je ahnungsloser er ihrer Meinung nach war, desto erfolgloser würde ihre Suche sein -, schraubte Sam das Zündschloß wieder mit seinen Werkzeugen in die Lenksäule. Er stieg aus, drückte den Türknopf hinunter und machte die Tür zu.
Er wollte die Gegend nicht über die Straße verlassen, weil es möglich war, daß ein Streifenwagen von dem einen oder anderen Ende einbiegen und ihn mit den Scheinwerfern anstrahlen würde. Statt dessen lief er schnell über den schmalen Weg am Parkplatz und öffnete eine Tür in einem schmiedeeisernen Zaun. Er kam in den Garten eines etwas heruntergekommenen viktorianischen Hauses, dessen Besitzer das Gestrüpp so hatten verwildern lassen, daß es aussah, als würde eine makaber gezeichnete Familie aus der Feder von Gahan Wilson hier hausen. Er ging leise an der Seite des Hauses vorbei, über den Vorgarten und zum Pacific Drive, einen Block südlich der Ocean Avenue.
Die Stille der Nacht wurde nicht von Sirenen gestört. Er hörte keine Rufe, keine hastigen Schritte, keine alarmierenden Schreie. Aber er wußte, er hatte eine Bestie mit vielen Köpfen geweckt, und diese unvergleichlich gefährliche Hydra würde nun in der Stadt nach ihm suchen.
36
Mike Peyser wußte nicht, was er tun sollte, wußte es nicht, er hatte Angst, war verwirrt und hatte Angst, daher konnte er nicht klar denken, aber er mußte schnell und klar denken, wie ein Mensch, aber der wilde Teil in ihm drängte sich im-mer wieder vor; sein Verstand arbeitete rasch, und er war messerscharf, aber er konnte nicht länger als ein paar Minuten einem zusammenhängenden Gedankengang folgen. Schnelles Denken, blitzschnelles Denken, reicht nicht aus, ein Problem wie dieses zu lösen; er mußte schnell und tiefschürfend denken. Aber seine Konzentration war nicht mehr, was sie einmal gewesen war.
Als es ihm endlich gelang, mit Schreien aufzuhören und vom Küchenboden aufzustehen, eilte er ins dunkle Eßzimmer, durchs unbeleuchtete Wohnzimmer, durch den kurzen Flur ins Schlafzimmer, dann weiter ins Bad, teilweise auf allen Vieren, erhob sich aber auf die Hinterfüße, als er die Schlafzimmerschwelle überschritten hatte, konnte sich jedoch nicht ganz aufrichten, war aber immerhin flexibel genug, halb aufrecht zu stehen. Im Bad, das nur schwach und leicht flackernd vom Mondlicht erhellt wurde, das durch das kleine Fenster auf den Spiegel des Medizinschränkchens fiel, packte er den Waschbeckenrand und sah in den Spiegel vor dem Medizinschränkchen, wo er nur ein schattenhaftes Spiegelbild von sich erkennen konnte, ohne Einzelheiten.
Er wollte glauben, daß er tatsächlich wieder in seine natürliche Gestalt zurückgekehrt war, daß das Gefühl, im verwandelten Stadium gefangen zu sein, nur eine Halluzination war, ja, ja, das wollte er glauben, mußte es unbedingt glauben, glauben, obwohl er nicht völlig aufrecht stehen konnte, obwohl er die Unterschiede in seinen unglaublich langfingrigen Händen und der seltsamen Haltung des Kopfes auf den Schultern bemerkte, und nicht zuletzt daran, wie der Rücken sich mit den Hüften vereinte. Er mußte es glauben.
Mach das Licht an, sagte er sich.
Er konnte es nicht.
Mach das Licht an.
Er hatte Angst.
Aber er mußte das Licht einschalten und sich ansehen.
Er umklammerte das Waschbecken und konnte sich nicht bewegen.
Mach das Licht an.
Statt dessen beugte er sich zu dem dunklen Spiegel und betrachtete die undeutliche Spiegelung, sah wenig mehr als den bersteinfarbenen Glanz seltsamer Augen.
Mach das Licht an.
Er stieß ein dünnes Wimmern von Zorn und Entsetzen aus.
Shaddack, dachte er plötzlich, Shaddack, er mußte es Shaddack erzählen, vielleicht würde Tom Shaddack wissen, was zu tun war, Shaddack war seine beste Hoffnung, möglicherweise seine einzige Hoffnung, Shaddack.
Er ließ das Waschbecken los, sank zu Boden, eilte aus dem Bad ins Schlafzimmer, zum Telefon auf dem Nachttisch. Beim Laufen wiederholte er den Namen immer wieder mit einer abwechselnd schrillen und kehligen, schrillen und flüsternden Stimme, als wäre er ein Zauberwort: »Shaddack, Shaddack, Shaddack, Shaddack...«
37
Tessa Lockland suchte in einer rund um die Uhr geöffneten Münzwäscherei vier Blocks östlich des Cove Lodge und einen halben Block von der Ocean Avenue entfernt Schutz. Sie wollte an einem hellen Ort sein, und die Reihen der Neonlichter an der Decke ließen keinen Schatten entstehen. Sie war allein in der Wäscherei, saß auf einem zerschrammten gelben Plastikstuhl und starrte die Reihen von Wäschetrockneröffnungen an, als würde das Verstehen durch eine kosmische Quelle zu ihnen kommen, die durch diese gläsernen Kreis e kommunizieren würde.
Als Dokumentarfilmemacherin mußte sie ein Auge für die Muster des Lebens haben, die einem Film den erzählerischen und visuellen Zusammenhang geben konnten, daher bereitete es ihr keine Mühe, die Muster von Dunkelheit, Tod und unbekannten Kräften in dieser heimgesuchten kleinen Stadt zu erkennen. Die fanatischen Geschöpfe im Hotel wa-ren sicherlich die Ursache der Schreie gewesen, die sie zuvor am Strand gehört hatte, und ihre Schwester war zweifellos von eben diesen Wesen getötet worden, was immer sie, zum Teufel, auch sein mochten. Was in gewisser Weise erklärte, weshalb die Behörden so versessen darauf gewesen waren, daß Marion der Verbrennung von Janices Leichnam zustimmte - nicht weil die sterblichen Überreste vom Meerwasser zerfressen und halb von Fischen verzehrt worden waren, sondern weil die Verbrennung Verletzungen vertuschen half, die bei der unvoreingenommenen Autopsie unbeantwortete Fragen aufgeworfen hätten. Darüber hinaus sah sie Spiegelungen der Korruption der hiesigen Behörden in der äußeren Erscheinung der Ocean Avenue, wo zu viele Schaufenster leer waren und es zu vielen Geschäften schlecht ging, was in einer Stadt, in der Arbeitslosigkeit praktisch nicht existierte, unerklärlich war. Ihr war eine Aura des Ernstes an den Leuten aufgefallen, die sie auf der Straße getroffen hatte, und ebenso eine Hektik und Zielstrebigkeit, die in einer ruhigen nördlichen Küstenstadt, wohin sich das Tohuwabohu des modernen Lebens kaum je verirrte, befremdlich wirkte.