Aber daß ihr dieses Muster aufgefallen war, bot noch keine Erklärung dafür, warum die Polizei Janices wahre Todesursache verheimlichen wollte. Oder warum die Stadt trotz ihres offensichtlichen Wohlstands in einer wirtschaftlichen Depression zu sein schien. Oder was, in Gottes Namen, diese Alptraumgeschöpfe im Motel gewesen waren. Muster waren Hinweise auf zugrundeliegende Wahrheiten, aber ihre Fähigkeit, sie zu erkennen, bedeutete nicht, daß sie die Antworten finden und die Wahrheit enthüllen könnte, auf die die Muster hindeuteten.
Sie saß zitternd unter dem Neonlicht und atmete die schwachen Spuren von Waschmitteln, Bleichmitteln, Weichspülern und den abgestandenen Geruch der Kippen in zwei freistehenden, mit Sand gefüllten Aschenbechern ein, während sie zu überlegen versuchte, was sie als nächstes tun sollte. Sie hatte ihre Entschlossenheit, Janices Tod aufzuklären, nicht verloren. Aber sie war nicht mehr so vermessen zu denken, daß sie ganz alleine Detektiv spielen könnte. Sie brauchte Hilfe, und die würde sie wahrscheinlich bei County- oder Staatsbehörden holen müssen.
Aber zunächst mußte sie einmal mit heiler Haut aus Moonlight Cove hinauskommen.
Das Auto stand beim Cove Lodge, aber sie wollte nicht dorthin zurückkehren, um es zu holen. Diese... Geschöpfe mochten immer noch dort sein oder es aus den dichten Büschen und Bäumen oder den in der Stadt allgegenwärtigen dunklen Schatten heraus beobachten. Wie Carmel, Kalifornien, das auch an der Küste lag, war Moonlight Cove eine Stadt, die buchstäblich in den Wald am Meer gebaut war. Tessa bewunderte Carmel, weil die Werke von Menschenhand und der Natur so gefällig miteinander verschmolzen waren, wo Geographie und Architektur häufig das Werk ein und desselben Bildhauers zu sein schienen1. Momentan jedoch machten die Üppigkeit und die kunstvollen nächtlichen Schatten Moonlight Cove nicht anmutig und schön; vielmehr schien sich diese Stadt in den dünnsten Mantel der Zivilisation zu hüllen, unter dem etwas Wildes - sogar Urzeitliches - wartete und lauerte. Die Baumhaine und dunklen Straßen waren nicht die Heimat der Schönheit, sondern des Unheimlichen und des Todes. Sie hätte Moon-light Cove wesentlich anziehender gefunden, wenn jede Straße, jede Gasse, jeder Rasen und jeder Park mit demselben Übermaß an Neonlicht erhellt gewesen wäre wie die Wäscherei, in der sie Zuflucht gesucht hatte.
Vielleicht war die Polizei mittlerweile als Reaktion auf die Schreie und den Aufruhr im Cove Lodge eingetroffen. Aber sie würde sich nicht sicherer fühlen, wenn sie dorthin zurückkehrte, nur weil die Bullen da waren. Die Polizei war Teil des Problems. Sie würden ihr Fragen nach der Ermordung der beiden anderen Gäste stellen. Sie würden herausfinden, daß Janice ihre Schwester gewesen war, und sie brauchte ihnen nicht zu erzählen, daß sie in die Stadt gekommen war, um die Umstände von Janices Tod aufzudek-ken, denn das würden sie auch von selbst vermuten. Wenn sie an einer Verschwörung beteiligt waren, die wahre Natur von Janices Tod zu vertuschen, würden sie wahrscheinlich nicht zögern, sich Tessas auf eine nachdrückliche und endgültige Art und Weise anzunehmen.
Sie mußte auf das Auto verzichten.
Aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie sich bei Nacht und Nebel aus der Stadt schliche. Sie würde auf der Autobahn vielleicht mitgenommen werden - vielleicht sogar von einem ehrlichen Trucker und nicht von einem mobilen Psychopathen -, aber sie würde zwischen Moonlight Cove und der Straße durch eine dunkle, ländliche Gegend laufen müssen, wo das Risiko, auf weitere dieser mordlüsternen Bestien zu treffen, die die Moteltür eingeschlagen hatten, sicher noch größer war.
Selbstverständlich hatten sie sie an einem öffentlichen und hell erleuchteten Ort verfolgt. Sie konnte nicht davon ausgehen, daß sie in dieser Wäscherei sicherer war als im dunklen Wald. Wenn die dünne Haut der Zivilisation aufplatzte und das urzeitliche Entsetzen hervorbrach, dann war man nirgendwo sicher, nicht einmal auf den Stufen einer Kirche, wie sie es in Nordirland und anderswo gelernt hatte.
Dennoch würde sie sich ans Licht halten und die Dunkelheit meiden. Sie war durch eine unsichtbare Wand zwischen der Wirklichkeit, wie sie sie immer gekannte hatte, und einer anderen, feindlicheren Welt getreten. Solange sie in dieser Zwielichtzone blieb, schien es klug, davon auszugehen, daß Schatten noch weniger Sicherheit und Schutz boten als hell erleuchtete Orte.
Aber damit hatte sie keinen Plan, wie sie vorgehen sollte. Sie konnte nur in der Wäscherei sitzenbleiben und auf den Morgen warten. Bei Tageslicht riskierte sie vielleicht den langen Fußmarsch zur Autobahn.
Das blanke Glas der Wäschereifenster erwiderte ihren starrenden Blick.
Ein Herbstfalter stieß leise gegen die Plastikverkleidung der Neonlichter.
38
Da sie nicht kühn nach Moonlight Cove hineingehen konnte, wie sie es vorgehabt hatte, verließ Chrissie die Holliwell Road und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sie blieb im Wald und schlich vorsichtig von Baum zu Baum, wobei sie sich bemühte, jedes Geräusch zu vermeiden, das die Wachtposten unter den Bäumen möglicherweise hätten hören können.
Nach ein paar Metern, als die Männer sie bestimmt nicht mehr sehen oder hören konnten, schritt sie wackerer aus. Schließlich kam sie zu einem der Häuser an der Landstraße. Das einstöckige Ranchhaus lag hinter einem großen Vorgarten; es wurde von mehreren Pinien und Fichten abgeschirmt und war im schwachen Mondschein kaum auszumachen. Weder drinnen noch draußen brannten Lichter, und alles war still.
Sie brauchte Zeit zum Nachdenken und mußte aus der kalten, klammen Nacht fortkommen. Sie hoffte, daß keine Hunde auf dem Grundstück waren, und eilte zur Garage, wobei sie sich vom Kiesweg fernhielt, um keinen unnötigen Lärm zu machen. Es gab, wie sie vermutet hatte, neben dem großen Tor, durch das das Auto hinein- und hinausfuhr, noch eine kleine Seitentür. Sie war unverschlossen. Sie trat in die Garage und machte die Tür hinter sich zu.
»Chrissie Foster, Geheimagentin, drang tapfer und kühn durch eine Seitentür ins Lager des Feindes ein«, sagte sie leise.
Das Leuchten des untergehenden Mondes drang durch die Scheiben der Tür und durch zwei hohe, schmale Fenster an der Westseite herein, aber es reichte nicht aus, etwas zu erhellen. Sie konnte nur dunkel ein paar Krümmungen von Chrom und Glas sehen, die eben ausreichten, die Anwesenheit von zwei Autos anzudeuten.
Sie tastete sich mit der Vorsicht einer Blinden zum ersten Fahrzeug, streckte beide Hände vor sich aus und hatte ständig Angst, sie könnte etwas umstoßen. Das Auto war nicht verschlossen. Sie schlüpfte hinter das Lenkrad und ließ die Tür offenstehen, damit das tröstliche Innenlicht anblieb. Sie vermutete, daß, wenn jemand im Haus aufwachte und nach draußen sah, er dieses Licht durchs Garagenfenster sehen konnte, aber dieses Risiko mußte sie eingehen.