Die Telefonzelle stand an der Südwand des Gebäudes und war von der Straße her einsichtig. Sam trat ein, zog aber die Tür nicht zu, weil er fürchtete, einen Stromkreis zu schließen, der das Licht einschalten und ihn damit für vorbeikommende Polizisten sichtbar machen würde.
Die Leitung war tot. Er warf einen Münze ein und hoffte, das würde das Freizeichen aktivieren. Die Leitung blieb tot.
Er spielte an der Gabel, in der der Hörer hing. Seine Münze kam wieder heraus.
Er versuchte es noch einmal, vergeblich.
Er glaubte, daß Telefonzellen auf dem Gelände von Tankstellen oder privaten Geschäften manchmal gemeinschaftlich geführt wurden, wobei sich die Telefongesellschaft und der Unternehmer, der die Zelle auf seinem Grundstück zuließ, den Gewinn teilten. Vielleicht hatten sie das Telefon abgestellt, als die Union 76 zugemacht hatte.
Aber er vermutete, daß die Polizei ihren Computerkontakt zur Telefongesellschaft dazu benützt hatte, alle Münzfernsprecher in Moolight Cove lahmzulegen. In dem Augenblick, als sie erfahren hatten, daß ein Agent des FBI unerkannt in der Stadt weilte, hatten sie extreme Maßnahmen ergreifen müssen, um zu verhindern, daß er mit der Außenwelt Verbindung aufnähme.
Vielleicht überschätzte er ihre Fähigkeiten aber auch. Er mußte noch ein Telefon ausprobieren, ehe er die Hoffnung aufgab, Kontakt mit dem Bureau zu bekommen. Beim Spazierengehen nach dem Essen war er an einer Münzwäscherei vorbeigekommen, die einen halben Block nördlich der Ocean Avenue und zwei Blocks westlich der Union 76 lag. Er war ziemlich sicher, daß er ein Telefon darin gesehen hatte, als er durch die Scheibe gespäht hatte - an der rückwärtigen Wand, im Anschluß an eine Reihe von Edelstahltrocknern im Industrieformat.
Er verließ die Union 76. Er hielt sich, soweit es ging, fern von den Straßenlaternen - die die Seitenstraßen nur am ersten Block nördlich und südlich der Ocean Avenue erhellten
- und ging durch dunkle Gassen, wenn er konnte. Er schlich durch die dunkle Stadt zu der Stelle, wo sich die Wäscherei seiner Erinnerung zufolge befand. Er wünschte sich, der Wind würde aufhören und einen Rest des zunehmend dünner werdenden Nebels zurücklassen.
An einer Kreuzung einen Block nördlich der Ocean und einen halben Block von der Wäscherei entfernt, lief er beinahe direkte vor einen Polizisten, der nach Süden Richtung Stadtmitte fuhr. Der Streifenwagen war einen halben Block von der Kreuzung entfernt, fuhr langsam und beobachtete beide Straßenseiten. Zum Glück sah er gerade in die andere Richtung, als Sam in den unvermeidbaren Lichtschein der Lampe an der Straßenecke trat.
Sam hastete rückwärts und drückte sich in den dunklen Schatten im tiefen Eingang eines dreigeschossigen Hauses, in dem einige der Selbständigen der Stadt untergebracht waren: Ein Schild links von der Tür listete einen Zahnarzt, zwei Anwälte, einen praktischen Arzt und einen Chiropraktiker auf. Wenn der Streifenwagen an der Kreuzung links einböge und an ihm vorbeiführe, würde er wahrscheinlich entdeckt werden. Aber wenn er geradeaus weiter zur Ocean führe oder rechts abböge und sich nach Westen wandte, würde er unbemerkt bleiben.
Er drückte sich gegen die verschlossene Tür, so weit er konnte, in den Schatten, und wartete, bis das nervtötend langsame Auto die Kreuzung erreichte; und das hatte Sam einen Moment Zeit zum Nachdenken und stellte fest, daß Moonlight Cove selbst für halb zwei Uhr morgens ungewöhnlich still und die Straßen seltsam verlassen waren. In Kleinstädten gab es sicher ebenso wie in Großstädten Nachtschwärmer, es hätten ein oder zwei Fußgänger unterwegs sein sollen, hin und wieder ein Auto, irgendein Anzeichen von Leben, abgesehen von einem Streifenwagen.
An der Kreuzung bog der schwarzweiße Wagen rechts ab und fuhr nach Westen, weg von ihm.
Obwohl die Gefahr vorbei war, blieb Sam in dem dunklen Eingang stehen und verfolgte im Geiste seinen Weg vom Cove Lodge zum Rathaus, von dort zur Union 76 und schließlich bis zu seiner mo mentanen Position. Er konnte sich nicht erinnern, daß er an einem Haus vorbeigekommen wäre, in dem Musik spielte, ein Fernseher lief oder Gelächter von Menschen auf eine Party hindeutete. Er hatte keine jungen Leute gesehen, die sich in parkenden Autos einen letzten Kuß gaben. Die wenigen Restaurants und Gasthäuser waren offenbar geschlossen, das Kino hatte dichtgemacht, und, abgesehen von ihm und der Polizei, hätte Moonlight Cove eine Geisterstadt sein können. Die Wohnzimmer, Schlafzimmer oder Küchen hätten nur von verwesenden Leichen bevölkert sein können - oder von Robotern, die tagsüber für Menschen galten und nachts aus Gründen der Energieersparnis abgeschaltet wurden, wenn es nicht notwendig war, die Illusion von Leben aufrechtzuerhalten.
Das Wort >Verwandlung< beunruhigte ihn zunehmend mehr, ebenso wie seine geheimnisvolle Bedeutung im Zusammenhang mit dem Projekt Moonhawk, als er aus dem Eingang trat, um die Ecke bog und die hell erleuchtete Straße entlang zur Wäscherei lief. Er sah das Telefon, als er die Glastür aufstieß.
Er eilte halb durch den langen Raum - rechts Trockner, eine Doppelreihe Waschmaschinen Rücken an Rücken in der Mitte, ein paar Stühle am Ende der Reihe, weitere Stühle an der linken Wand, zusammen mit Süßigkeitenautomaten und Waschmittelspendern und einem Tisch, um Wäsche zusammenzulegen -, bis er bemerkte, daß die Wäscherei gar nicht verlassen war. Eine kleine Blondine in verblichenen Jeans und einem blauen Pullover saß auf einem der gelben Plastikstühle. Keine Waschmaschine und kein Trockner lief, und die Frau schien keinen Wäschekorb bei sich zu haben.
Sie verblüffte ihn so sehr - eine lebende Person, ein lebender Mensch in dieser grabesstillen Nacht -, daß er stehenblieb und blinzelte.
Sie kauerte auf dem Rand des Stuhls und war augenscheinlich nervös. Ihre Augen waren aufgerissen. Sie hatte die Hände im Schoß verkrampft. Sie schien den Atem anzuhalten.
Als ihm klar wurde, daß er ihr Angst machte, sagte Sam: »Tut mir leid.«
Sie sah ihn an, als wäre sie ein Kaninchen, das sich dem Fuchs gegenübersieht.
Als ihm bewußt wurde, daß er wild dreinblicken mußte, vielleicht sogar panisch wirkte, fügte er hinzu: »Ich bin nicht gefährlich.«
»Das sagen sie alle.«
»Tatsächlich?«
»Aber ich bin es.«
Er sagte verwirrt: »Was sind Sie?«
»Gefährlich.«
»Wirklich?«
Sie stand auf. »Ich habe den schwarzen Gürtel.«
Zum ersten Mal seit Tagen huschte ein aufrichtiges Lächeln über Sams Gesicht. »Können Sie mit bloßen Händen töten?«
Sie sah ihn einen Augenblick blaß und zitternd an. Als sie schließlich sprach, war ihr gekränkter Zorn exzessiv. »He, machen Sie sich nicht über mich lustig, Arschloch, sonst schlage ich Sie zusammen, daß Sie sich beim Laufen wie ein Sack Bruchglas anhören.«
Von ihrer Heftigkeit überrascht, nahm Sam allmählich die Einzelheiten in sich auf, die ihm beim Eintreten aufgefallen waren. Keine Waschmaschinen oder Trockner in Betrieb. Kein Waschkorb. Kein Waschmittelkarton und keine Weichspülerflasche.
»Was stimmt nicht?« fragte er plötzlich argwöhnisch.
»Nichts, wenn Sie mir vom Leibe bleiben.«
Er fragte sich, ob sie wußte, daß die hiesige Polizei scharf darauf war, ihn zu erwischen. Aber das schien verrückt. Woher sollte sie es wissen? »Was haben Sie hier zu suchen, wenn Sie nichts zu waschen haben?«
»Was geht Sie das an? Gehörte Ihnen diese Klitsche?« wollte sie wissen.
»Nein. Und erzählen Sie mir nicht, daß sie Ihnen gehört.«
Sie sah ihn böse an.
Er betrachtete sie und merkte erst allmählich, wie attraktiv sie war. Ihre Augen waren so leuchtend blau wie ein Junihimmel, ihre Haut so rein wie Frühlingsluft, und sie schien an dieser dunklen Oktoberküste völlig fehl am Platze zu sein, geschweige denn in einer schäbigen Wäscherei um ein Uhr dreißig am Morgen. Als ihm ihre Schönheit endlich völlig zu Bewußtsein gekommen war, fielen ihm auch andere Dinge auf, auch das Ausmaß ihrer Angst, das sich in ihren Augen, den Linien um sie herum und an ihrem Mund zeigte. Es war eine Angst, die größer war als jede mögliche Bedrohung, die von ihm ausgehen konnte. Wäre er ein zwei Meter großer, hundertfünfzig Kilo schwerer, tätowierter Rocker mit einem Revolver in einer und einem zehn Zoll langen Dolch in der anderen Hand und wäre er Psalmen an Satan singend in die Wäscherei gestürzt, dann wären ihr blutleeres Gesicht und das Entsetzen in ihren Augen verständlich gewesen. Aber er war nur Sam Booker, dessen größter Vorteil als Agent sein durch und durch normales Äußeres war, sowie seine Aura der Harmlosigkeit.