Da ihn ihre Angst nervös machte, sagte er: »Das Telefon.«
»Was?«
Er deutete auf den Münzfernsprecher.
»Ja«, sagte sie, als wollte sie bestätigen, daß es sich tatsächlich um ein Telefon handelte.
»Ich wollte nur telefonieren.«
»Oh.«
Er behielt sie im Auge, während er zum Telefon ging, seine Münze einwarf, aber kein Freizeichen bekam. Er holte die Münze wieder heraus und versuchte es noch einmal. Nichts.
»Verdammt!« sagte er.
Die Blondine war zur Tür geschlichen. Sie blieb stehen, als erwartete sie, daß er sich auf sie stürzen und sie niederzerren würde, wenn sie versuchte, die Wäscherei zu verlas -sen.
Moonlight Cove erzeugte in Sam eine übermächtige Paranoia. Er betrachtete seit ein paar Stunden jeden Menschen in der Stadt als potentiellen Gegner. Und plötzlich wurde ihm klar, daß das seltsame Verhalten dieser Frau auf dieselbe Geisteshaltung wie seine zurückzuführen war. »Ja, natürlich, Sie sind nicht von hier, nicht aus Moonlight Cove?«
»Und?«
»Ich auch nicht.«
»Und?«
»Und Sie haben etwas gesehen.«
Sie starrte ihn an.
Er sagte: »Etwas ist geschehen, Sie haben etwas gesehen, und Sie haben Angst, und ich wette, dazu haben Sie verdammt guten Grund.«
Sie sah aus, als wollte sie zur Tür stürzen.
»Warten Sie«, sagte er hastig. »Ich bin vom FBI.« Seine Stimme krächzte ein wenig. »Wirklich.«
44
Weil er ein Nachtmensch war und es immer vorgezogen hatte, tagsüber zu schlafen, befand sich Thomas Shaddack in seinem teakholzgetäfelten Arbeitszimmer, trug einen grauen Jogginganzug und arbeitete am Computer an einem Aspekt des Projekts Moonhawk, als Evan, sein Nachtdiener, durchläutete und ihm sagte, daß Loman Watkins vor der Tür stünde.
»Bringen Sie ihn zum Turm«, sagte Shaddack. »Ich werde gleich zu ihm kommen.«
Heutzutage trug er selten etwas anderes als Jogginganzüge. Er hatte mehr als zwanzig im Schrank - zehn schwarze, zehn graue und ein paar marineblaue. Sie waren angenehmer als andere Kleidung, und indem er seine Wahlmöglichkeiten beschränkte, sparte er Zeit, die er ansonsten damit vergeudet hätte, die Garderobe des Tages zusammenzustellen, eine Aufgabe, für die er kein Geschick hatte. Mode interessierte ihn nicht. Außerdem war er schlaksig - große Füße, dünne Beine, knotige Knie, lange Arme, knochige Schultern
- und so dünn, daß er nicht einmal in maßgeschneiderten Anzügen gut aussah. Kleidungsstücke hingen entweder seltsam an ihm herunter oder betonten seine Magerkeit in einem solchen Ausmaß, daß er wie der personifizierte Tod aussah, ein unglücklicher Vergleich, der sich zusätzlich durch seine weiße Haut, das fast schwarze Haar, scharfgeschnittene Züge und gelbliche Augen aufdrängte.
Er trug die Jogginganzüge sogar zu den Aufsichtsratssitzungen von New Wave. Wenn man auf seinem Gebiet ein Genie war, dann erwarteten die Leute, daß man exzentrisch war. Und wenn man über ein Privatvermögen verfügte, das in die hunderte Millionen ging, dann akzeptierten sie das Exzentrische kommentarlos.
Sein ultramodernes Betonhaus am Rand der Klippe an der Nordspitze der Bucht war ebenfalls Ausdruck seiner kalkulierten Nonkonformität. Die drei Stockwerke waren wie die Schichten einer Torte, aber jede Schicht hatte eine andere Größe als die anderen - die größte oben, die kleinste in der Mitte -, und sie waren nicht konzentrisch, sondern versetzt, und verliehen dem Haus bei Tage das Aussehen einer gigantischen, avantgardistischen Skulptur. Wenn nachts die Myriaden Fenster erleuchtet waren, sah es nicht mehr wie eine Skulptur, sondern wie das raumfahrende Mutterschiff einer erobernden außerirdischen Streitmacht aus.
Der Turm war etwas Exzentrisches auf dem Exzentrischen, er erhob sich abseits der Mitte vom dritten Stock weitere zwölf Meter in die Höhe. Er war nicht rund, sondern oval, nicht wie ein Turm, in dem eine Prinzessin auf ihren umherziehenden Prinzen harrte oder in dem ein Ritter seine Feinde gefangenhielt und folterte, er erinnerte vielmehr an den Turm eines U-Boots. Man konnte den großen, verglasten Raum ganz oben entweder mit dem Fahrstuhl erreichen, oder mittels einer Treppe, die spiralförmig an der Innenseite der Turmwand verlief und den Metallkern umkreiste, in dem sich der Fahrstuhlschacht befand.
Shaddack ließ Watkins aus schierem Vergnügen zehn Minuten warten und beschloß dann, mit dem Fahrstuhl hinaufzufahren. Das Innere des Lifts war mit poliertem Messing verkleidet, daher schien es, obwohl die Geschwindigkeit langsam war, als würde er im Inneren einer Gewehrkugel fahren.
Er hatte den Turm fast als Nachgedanken zum Entwurf des Architekten angefügt, aber er war sein Lieblingsort in dem riesigen Haus geworden. Diese hohe Stätte bot ungehinderten Ausblick auf das stille (oder sturmgepeitschte), sonnenglitzernde (oder nachtumhüllte) Meer im Westen. Nach Osten und Süden hin sah er hinaus und hinab auf die ganze Stadt Moonlight Cove; sein Gefühl der Überlegenheit wurde durch diesen erhöhten Ausblick auf die einzigen anderen sichtbaren Menschenwerke deutlich gesteigert. Aus diesem Zimmer hatte er erst vor vier Monaten den Mondfalken zum dritten Mal in seinem Leben gesehen, ein Anblick, der den wenigsten Menschen auch nur ein einziges Mal zuteil wurde - was er als Zeichen dafür wertete, daß er der einflußreichste Mensch werden sollte, der jemals auf Erden gewandelt war.
Der Fahrstuhl blieb stehen. Die Türen gingen auf.
Als Shaddack den spärlich erleuchteten Raum betrat, der den Fahrstuhlschacht umgab, erhob sich Loman Watkins rasch aus seinem Sessel und sagte respektvolclass="underline" »Guten Abend, Sir.«
»Bitte setzen Sie sich, Chief«, sagte er gnädig, sogar herablassend, aber mit einem subtilen Unterton in der Stimme, der ihr gegenseitiges Verständnis bekräftigte, daß es Shad-dack war, und nicht Watkins, der entschied, wie formell oder entspannt die Zusammenkunft sein würde.
Shaddack war der einzige Sohn von James Randolph Shad-dack, einem inzwischen verstorbenen Richter aus Phoenix. Die Familie war nicht wohlhabend gewesen, aber solide, gehobene Mittelschicht, und diese Position auf der wirtschaftlichen Leiter, verbunden mit dem Prestige des Richteramtes, verlieh James beträchtliches Gewicht in seiner Gemeinde. Und Macht. Während seiner ganzen Kindheit und Jugend war Tom fasziniert gewesen, wie sein Vater, der neben seinem Richteramt auch politisch aktiv gewesen war, diese Macht nicht nur dazu benutzt hatte, materielle Vorzüge zu erhalten, sondern auch, andere zu kontrollieren. Diese Kontrolle - die Ausübung von Macht ausschließlich um der Macht willen -hatte James am meisten angesprochen, und das hatte auch seinen Sohn von frühester Jugend an fasziniert.
Heute hatte Thomas Shaddack Macht über Loman Wat-kins und Moonlight Cove, weil er reich war, weil er der größte Arbeitgeber in der Stadt war, weil er die Räder des politischen Systems in Händen hatte, und wegen des Projekts Moonhawk, das er nach der ihm dreimal zuteil gewordenen Vision genannt hatte. Aber seine Fähigkeit, sie zu manipulieren, überstieg alles, was dem alten James als Richter und Freizeitpolitiker vergönnt gewesen war. Er besaß Macht über Leben und Tod - buchstäblich. Wenn er in einer Stunde entschied, daß sie alle sterben mußten, dann würden sie alle zusammen noch vor Mitternacht tot sein. Darüber hinaus konnte er sie zum Tode verurteilen und mußte ebensowenig damit rechnen, dafür bestraft zu werden, wie ein Gott, wenn er Feuer auf seine Untertanen herabregnen ließ.