Denny war schon vor der Veränderung ein Computerfanatiker gewesen, einer der Jungs, die sich selbst Hacker nannten, für die Computer nicht nur Hilfsmittel waren, nicht nur Spiel und Spaß, sondern eine Lebensweise. Nach der Verwandlung hatte man sich seine Erfahrung und Intelligenz bei New Wave zunutze gemacht. Er bekam ein leistungsfähigeres Heimterminal und eine moderne Verbin-düng mit dem Supercomputer im Hauptsitz von New Wave - ein Moloch, in dem sich, so Denny, viertausend Meilen Kabel und dreiunddreißigtausend superschnelle Datenverarbeitungseinheiten befanden -, den sie aus Gründen, die Loman nicht verstand, Sonne nannten, doch vielleicht lag es daran, daß die Forschungen bei New Wave so sehr von der großen Maschine abhängig waren, daß sich alles um sie drehte.
Während Loman neben seinem Sohn stand, flackerten umfangreiche Daten über den Bildschirm. Worte, Zahlen, Kurven und Diagramme kamen und gingen mit einer solchen Geschwindigkeit, daß nur jemand von New Wave mit irgendwie geschärften Sinnen und einer gesteigerten Konzentrationsfähigkeit eine Bedeutung darin erkennen konnte.
Loman konnte sie nicht lesen, weil er nicht die Ausbildung hatte, die Denny von New Wave bekommen hatte. Außerdem hatte er weder die Zeit gehabt noch die Notwendigkeit verspürt zu lernen, wie er seine neuerlangte Konzentrationsfähigkeit voll einsetzen könnte.
Aber Denny absorbierte den fließenden Datenstrom, er sah den Bildschirm ausdruckslos ab, runzelte nicht die Stirn, sein Gesicht war vollkommen entspannt. Seit seiner Verwandlung war der Junge ebenso eine solide elektronische Wesenheit, wie er Fleisch und Blut war, und dieser neue Teil von ihm sprach mit einer Vertrautheit auf den Computer an, die weit über die Mensch-Maschine-Beziehung hinausging, wie die alten Menschen sie gekannt hatten.
Loman wußte, daß sein Sohn sich über das Projekt Moon-hawk informierte. Er würde schließlich einmal zu der Arbeitsgruppe bei New Wave gehören, die die Software und Hardware des Projekts ständig verbesserte und weiterentwickelte und so daran arbeitete, daß jede Generation Neuer Menschen überlegener - und damit effizienter - als die vorangegangene sein würde.
Ein endloser Datenstrom floß über den Bildschirm.
Denny sah den Bildschirm so lange ohne zu blinzeln an, daß seine Augen getränt hätten, wäre er einer der Alten Menschen gewesen.
Das Licht der ständig wechselnden Daten tanzte an den Wänden und jagte unablässig Schatten durch das Zimmer.
Loman legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter.
Denny sah nicht auf und reagierte auch sonst nicht. Er bewegte die Lippen, als würde er sprechen, gab aber keinen Laut von sich. Er redete mit sich selbst und schien seinen Vater gar nicht zu bemerken.
In einem geschwätzigen, evangelistischen Augenblick hatte Thomas Shaddack davon gesprochen, daß er eines Tages ein Interface erfinden würde, mit dem man einen Computer direkt mit einer chirurgisch eingepflanzten Buchse am Ansatz der menschlichen Wirbelsäule verbinden könnte, um so künstliche und natürliche Intelligenz zu verschmelzen. Loman hatte nicht begriffen, warum so etwas klug oder erstrebenswert war, und Shaddack hatte gesagt: »Die Neuen Menschen sind eine Brücke zwischen Mensch und Maschine, Loman. Aber eines Tages wird unsere Rasse diese Brücke völlig überquert haben und eins mit den Maschinen werden, denn erst dann wird die Menschheit vollkommen effizient sein und totale Kontrolle haben.«
»Denny«, sagte Loman leise.
Der Junge antwortete nicht.
Schließlich ging Loman aus dem Zimmer.
Am Ende des Flurs, auf der anderen Seite, befand sich das Elternschlafzimmer. Grace lag im Dunkeln auf dem Bett.
Seit der Verwandlung konnte natürlich bloßer Mangel an Licht nicht verhindern, daß sie etwas sah, denn ihre Sehkraft war drastisch verbessert. Sie konnte selbst in diesem Zimmer - ebenso wie Loman - die Umrisse der Möbel und ihre Beschaffenheit sehen, wenn auch wenige Einzelheiten. Für sie war die Nachtwelt nicht mehr schwarz, sondern dunkelgrau.
Er setzte sich auf den Bettrand. »Hallo.«
Sie sagte nichts.
Er legte ihr eine Hand auf den Kopf und strich über das lange, kastanienfarbene Haar. Er berührte ihr Gesicht und stellte fest, daß das Gesicht tränenfeucht war, eine Einzel-heit, die er nicht einmal mit seinen verbesserten Augen wahrnehmen konnte.
Weinte. Sie weinte, und das packte ihn, denn er hatte noch nie einen der Neuen Menschen weinen gesehen.
Sein Herz schlug schneller, ein kurzes aber herrliches Pulsieren der Hoffnung lief durch ihn hindurch. Vielleicht war das Absterben von Emotionen nur ein vorübergehendes Stadium.
»Was ist?« fragte er. »Warum weinst du?«
»Ich habe Angst.«
Der Puls der Hoffnung ließ rasch nach. Angst hatte sie zum Weinen gebracht, Angst und die damit verbundene Einsamkeit, und er wußte bereits, daß diese beiden Empfindungen Teil der schönen neuen Welt waren, diese und keine anderen.
»Angst wovor?«
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Grace.
»Aber du mußt nicht schlafen.«
»Nicht?«
»Keiner von uns muß mehr schlafen.«
Vor der Verwandlung mußten Männer und Frauen schlafen, weil der menschliche Körper als rein biologischer Mechanismus schrecklich uneffizient war. Ruhezeit war erforderlich, um zu entspannen und die Schäden des Tages zu reparieren, um mit den Toxischen Substanzen fertig zu werden, die tagsüber von der externen Welt aufgenommen worden waren, und mit denjenigen, die intern erzeugt wurden. In den Neuen Menschen war jede Körperfunktion hervorragend reguliert worden. Die Arbeit der Natur war stark verbessert. Jedes Organ, jedes System, jede Zelle funktionierte mit größerer Effizienz, schaffte Abfallstoffe schneller als vorher weg und reinigte und regenerierte sich zu jeder Tages -zeit. Das wußte Grace ebensogut wie er.
»Ich sehne mich nach Schlaf«, sagte sie.
»Du spürst nur die Macht der Gewohnheit.«
»Der Tag hat jetzt zu viele Stunden.«
»Wir werden die Zeit totschlagen. Die neue Welt wird eine regsame sein.« »Was werden wir in dieser neuen Welt machen, wenn sie kommt?«
»Das wird uns Shaddack sagen.«
»Derweil... «
»Geduld«, sagte er.
»Ich habe Angst.«
»Geduld.«
»Ich sehne mich nach Schlaf, dürste danach.«
»Wir müssen nicht schlafen«, sagte er und demonstrierte die Geduld, die er von ihr verlangt hatte.
»Wir brauchen keinen Schlaf«, sagte sie geheimnisvoll, »aber wir müssen schlafen.«
Sie schwiegen eine Weile.
Dann nahm sie sein Hand in ihre und führte sie zu ihrer Brust. Sie war nackt.
Er versuchte, sich von ihr wegzuziehen, weil er Angst vor dem hatte, was passieren könnte, was früher schon passiert war, seit der Veränderung, wenn sie sich geliebt hatten. Nein. Nicht geliebt. Sie liebten einander nicht mehr. Sie machten Sex. Kein Gefühl, abgesehen vom körperlichen Empfinden, keine Zärtlichkeit oder Leidenschaft. Sie stießen heftig und schnell aneinander, schoben und zogen, spannten und rieben sich aneinander und bemühten sich, die Reizung der Nervenenden zu maximieren. Keiner kümmerte sich um den anderen, nur um sich selbst, um die eigene Befriedigung. Da ihr Gefühlsleben nicht mehr sehr reichhaltig war, versuchten sie, diesen Verlust durch Sinnesfreuden wieder wettzumachen, vornehmlich Essen und Sex. Aber ohne den emotionalen Faktor war jedes Erlebnis... hohl, und sie versuchten, diese Leere durch Übertreibung auszugleichen; eine schlichte Mahlzeit wurde zum Festschmaus; ein Festschmaus wurde zu einer rückhaltslosen Lektion in Gier. Und Sex verkam zu einem wilden, animalischen Kopulieren.