»Keine Sahne«, sagte er. »Nur Beutelmilch.«
»Das reicht«, sagte Sam.
»Und ich fürchte, auch kein elegantes Milchkännchen aus Porzellan«, sagte Harry und stellte den Milchbeutel auf den Tisch.
Tessa fing an zu überlegen, ob sie einen Dokumentarfilm über Harry drehen sollte, über den Mut, den es erforderte, unter diesen Umständen unabhängig zu bleiben: Sie wurde trotz der Geschehnisse der vergangenen Stunden vom Sirenengesang ihres Berufes angezogen. Aber sie hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, daß man die Kreativität eines Künstlers nicht abschalten konnte; das Auge einer Filmemacherin konnte man nicht so leicht abdecken wie die Linse einer Kamera. Sogar während sie über den Tod ihrer Schwester trauerte, waren ihr Hinfalle für Projekte gekommen, erzählerische Konzepte, interessante Einstellungen und Winkel. Sogar im Schrecken des Krieges, als sie mit afghanischen Rebellen geflohen war, während sowjetische Flugzeuge den Boden hinter ihnen bombardierten, freute sie sich darüber, was sie auf Film bekam und was sie zu Hause im Schneidraum damit machen könnte - und ihr dreiköpfiges Team hatte genauso reagiert. Daher fühlte sie sich nicht mehr verlegen oder schuldig, weil sie rund um die Uhr Künstlerin war, selbst in tragischen Zeiten; für sie war das natürlich und Teil davon, kreativ und am Leben zu sein.
Der Harrys Bedürfnissen angepaßte Rollstuhl verfügte über eine Hydraulik, mit der man den Sitz ein paar Zentime -ter heben konnte. Er setzte sich neben Tessa und gegenüber von Sam hin.
Moose lag in der Ecke, sah zu und hob ab und zu den Kopf, als würde er sich für ihre Unterhaltung interessieren -obwohl ihn wahrscheinlich eher der Geruch des Schokoladenkuchens anregte. Aber der Labrador kam nicht herüber und schnupperte herum und winselte nach Leckerbissen, und Tessa war von seiner Disziplin beeindruckt.
Während sie die Kaffeekanne herumreichten und Kuchen und Brötchen aßen, sagte Harry: »Sie haben mir gesagt, was Sie hierher geführt hat, Sam - nicht nur mein Brief, sondern auch diese sogenannten Unfälle.« Er sah Tessa an; und weil sie an seiner rechten Seite saß, erweckte sein ständig geneig-ter Kopf den Eindruck, als würde er sich von ihr weglehnen und sie voll Argwohn oder zumindest Skepsis ansehen, obwohl sein herzliches Lächeln dieses Verhalten Lügen strafte. »Und was ist mit Ihnen, Miß Lockland?«
»Bitte nennen Sie mich Tessa. Nun... meine Schwester war Janice Capshaw...«
»Richard Capshaws Frau, die Frau des lutheranischen Priesters?« sagte er überrascht.
»Ganz recht.«
»Die kamen mich häufig besuchen. Ich war kein Mitglied ihrer Gemeinde, aber so waren sie eben. Wir wurden Freunde. Sie kam auch nach seinem Tod noch ab und zu vorbei. Ihre Schwester war eine gütige und wunderbare Frau, Tes-sa.« Er stellte die Tasse weg und streckte ihr seine gute Hand entgegen. »Sie war mein Freund.«
Tessa nahm die Hand. Sie war ledrig und schwielig von der Arbeit und sehr kräftig, als würde sich die ganze Kraft seines gelähmten Körpers durch dieses gesunde Glied ausdrücken.
»Ich habe zugesehen, wie sie sie in Callans Bestattungsinstitut ins Krematorium gebracht haben«, sagte Harry. »Durch mein Teleskop. Ich beobachte. Das ist die hauptsächliche Beschäftigung in meinem Leben. Beobachten.« Er errötete leicht. Er hielt Tessas Hand fester. »Nicht nur schnüffeln. Eigentlich überhaupt nicht schnüffeln. Ich... nehme Anteil. Oh, ich lese auch gerne, und ich habe eine Menge Bücher, und ich denke auch bestimmt jede Menge nach, aber in erster Linie bringt mich das Beobachten durch. Wir gehen später nach oben. Ich zeige Ihnen das Teleskop, die ganze Anlage. Ich denke, Sie werden verstehen. Ich hoffe es jedenfalls. Wie dem auch sei, ich habe gesehen, wie sie Janice in jener Nacht zu Callan gebracht haben... aber ich erfuhr erst zwei Tage später, wer es gewesen war, als die Geschichte ihres Todes in der Lokalzeitung stand. Ich konnte nicht glauben, daß sie so gestorben ist, wie es dort stand. Ich glaube es immer noch nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Tessa. »Darum bin ich hier...«
Harry ließ Tessas Hand mit einem letzten Drücken widerwillig los. »In letzter Zeit sieht man viele Leichen, die meisten werden bei Nacht zu Callan geschafft, und die Polizei ist auch häufig dabei und überwacht alles - verdammt seltsam für eine kleine Stadt wie diese.«
Sam sagte von der anderen Seite des Tisches: »Zwölf Unfälle oder Selbstmorde in weniger als zwei Monaten.«
»Zwölf?« sagte Harry.
»Wußten Sie nicht, daß es so viele sind?«
»Oh, es sind wesentlich mehr.«
Sam blinzelte.
Harry sagte: »Ich habe zwanzig gezählt.«
50
Nachdem Watkins gegangen war, begab sich Shaddack wieder zum Computerterminal in seinem Arbeitszimmer, stellte die Verbindung zu Sonne her, dem Supercomputer von New Wave, und machte sich wieder an die Arbeit an einem problematischen Aspekt des derzeitigen Projekts. Es war zwar halb drei Uhr morgens, aber er würde noch ein paar Stunden tätig sein, denn er ging immer frühestens bei Dämmerung ins Bett.
Er war erst ein paar Minuten am Terminal, als sein Privattelefon läutete.
Bis Booker gefaßt war, ließ der Computer der Telefongesellschaft ausschließlich Gespräche zwischen Verwandelten zu, von einem Verwandelten zu einem Verwandelten. Andere Leitungen waren unterbrochen, Telefonate zur Außenwelt wurden unterbrochen, bevor sie überhaupt zustande kommen konnten. Telefonanrufe nach Moonlight Cove wurden von einem Tonband beantwortet, das einen Fehler im Netz vorschützte, binnen vierundzwanzig Stunden wieder volle Einsatzbereitschaft versprach und Bedauern über die Unannehmlichkeit ausdrückte.
Daher wußte Shaddack, der Anrufer mußte einer der Verwandelten sein, und auch einer seiner engsten Mitarbeiter bei New Wave, da der Anruf über seine Privatleitung kam.
Eine Digitalanzeige unter dem Telefon zeigte die Nummer, von der der Anruf getätigt wurde, und er erkannte sie als Nummer von Mike Peyser. Er nahm den Hörer ab und sagte: »Shaddack.«
Der Anrufer atmete abgehackt und keuchend ins Telefon, sagte aber nichts.
Shaddack sagte stirnrunzelnd: »Hallo?«
Nur Atmen.
Shaddack sagte: »Mike, sind Sie das?«
Die Stimme, die ihm schließlich antwortete, war kehlig und heiser, aber mit einem schrillen Unterton, flüsternd und dennoch laut, Peysers Stimme und doch auch wieder nicht, seltsam:»...etwas stimmt nicht, etwas stimmt nicht, kann mich nicht verändern, kann nicht... stimmt nicht... stimmt nicht...«
Shaddack wollte nur widerstrebend eingestehen, daß er Mike Peysers Stimme in diesen seltsamen Betonungen und unheimlichen Kadenzen erkannte. Er sagte: »Wer ist da?«
»...brauche, brauche... brauche, will, ich brauche...«
»Wer ist da?« verlangte Shaddack wütend zu wissen, aber in Gedanken stellte er eine andere Frage: Was ist da?
Der Anrufer gab einen Laut von sich, der ein Stöhnen des Schmerzes, ein Wimmern heftigsten Zorns, ein dünner Schrei der Frustration und ein Fauchen war, das alles zu einem einzigen Plärren verschmolz. Der Hörer fiel ihm mit einem heftigen Poltern aus der Hand.
Shaddack legte seinen eigenen Hörer weg, wandte sich wieder seinen VDT zu, schaltete sich ins Datennetz der Polizei ein und gab eine dringende Nachricht an Loman Wat-kins durch.
51
Sam Booker saß im Schlafzimmer im dritten Stock auf dem Stuhl, bückte sich über das Okular und beobachtete den Hinterhof von Callans Bestattungsinstitut. Der Wind, der immer noch gegen die Fenster stürmte und die Bäume auf der Hü-gelflanke schüttelte, auf der fast ganz Moonlight Cove erbaut war, hatte den Nebel bis auf wenige Schwaden verweht. Die Lichter des Zufahrtsweges waren gelöscht worden, die Rückseite von Callans Institut lag in Dunkelheit, abgesehen vom schwachen Licht, das von den zugezogenen Fenstern des Krematoriumflügels ausging. Sie waren zweifellos emsig damit beschäftigt, die Leichen des Ehepaars einzuäschern, das im Cove Lodge ermordet worden war.