Sie nahmen ihn. Die Fenster im Korridor schauten auf den Dschungel hinaus, und nun waren sie mitten darin. Gelegentlich konnte Mat die drei Türme sehen. Der Ort, an dem sie eben noch gewesen waren, der Ort, an dem Noal blutete.
»Hier hast du deine Antworten bekommen, richtig?«, fragte Thom.
Mat nickte.
»Glaubst du, ich könnte auch welche bekommen? Drei Fragen. Alle Antworten …«
»Du willst sie nicht«, sagte Mat und richtete den Hut. »Glaube es mir, wirklich nicht. Es sind keine Antworten. Es sind Drohungen. Versprechen. Wir …«
Thom blieb ruckartig stehen. Moiraine regte sich in seinen Armen. Sie stöhnte leise, hatte die Augen aber noch geschlossen. Aber nicht das ließ Mat erstarren.
Voraus wartete ein weiterer kreisrunder gelber Raum. Genau in der Mitte stand ein Türrahmen aus rotem Stein. Oder zumindest, was davon noch übrig war.
Mat fluchte und stürmte darauf zu. Der Boden war übersät mit roten Steintrümmern. Stöhnend ließ Mat den Speer fallen und hob ein paar der Brocken auf. Ein Schlag von ungeheurer Wucht hatte den Türrahmen zerschmettert.
Kurz hinter dem Eingang sank Thom auf die Knie, die sich bewegende Moiraine im Arm. Er sah erschöpft aus. Keiner von ihnen hatte noch ein Bündel; Mat hatte seines Noal gegeben, und Thom hatte seines zurückgelassen. Und dieser Raum war eine Sackgasse ohne weiteren Ausgang.
»Dieser Ort soll verflucht sein!«, brüllte Mat, riss sich den Hut vom Kopf und starrte in die endlose Dunkelheit über ihnen hinauf. »Man sollte Euch alle verbrennen, Schlangen und Füchse! Der Dunkle König soll Euch alle holen! Ihr habt mein Auge, Ihr habt Noal. Das reicht als Preis für Euch! Das ist ein zu hoher Preis! Genügt das Leben von Jain dem verdammten Fernstreicher nicht, um Euch zu beschwichtigen, Ihr Ungeheuer!«
Seine Worte verhallten ohne Erwiderung. Der alte Gaukler kniff die Augen zusammen und hielt Moiraine. Er sah besiegt aus, völlig am Boden zerstört. Seine Hände waren rot und mit Blasen übersät, weil er sie aus dem Nebel gezogen hatte, seine Mantelärmel waren angesengt.
Mat sah sich verzweifelt um. Er versuchte es damit, sich mit geschlossenem Auge zu drehen und den Arm auszustrecken.
Als er das Auge wieder öffnete, zeigte er auf die Mitte des Raumes. Den zerbrochenen Türrahmen.
»Es war ein guter Versuch, mein Junge«, sagte Thom. »Wir haben uns gut geschlagen. Besser als erwartet.«
»Ich gebe nicht auf«, beharrte Mat und versuchte, dem niederschmetternden Gefühl in seinem Inneren zu trotzen. »Wir … wir gehen denselben Weg zurück, finden den Rückweg zu dem Ort zwischen Aelfinn und Eelfinn. Der Vertrag besagt, dass sie das Portal geöffnet lassen müssen. Wir nehmen es und kommen hier raus. Ich will verdammt sein, wenn ich hier sterbe. Du schuldest mir noch immer ein paar Becher. «
Thom öffnete die Augen und lächelte, stand aber nicht auf. Er schüttelte den Kopf, dass sein tief herabhängender Schnurrbart wackelte, und betrachtete Moiraine.
Zitternd schlug sie die Augen auf. »Thom«, flüsterte sie und lächelte. »Ich dachte mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe.«
Beim Licht, ihre Stimme führte Mat zurück. In andere Zeiten. Vor Ewigkeiten.
Sie schaute ihn an. »Und Mat. Der liebe Matrim. Ich wusste, dass du kommst, um mich zu holen. Ihr beide. Ich wünschte, ihr hättet es nicht getan, aber ich wusste, dass ihr es tut…«
»Ruh dich aus, Moiraine«, sagte Thom leise. »Wir sind in zwei Lautenschlägen hier raus.«
Mat schaute auf sie herunter, wie sie hilflos dort lag. »Soll man mich doch zu Asche verbrennen, ich werde es nicht so enden lassen!«
»Sie kommen, mein Junge«, sagte Thom. »Ich höre sie.«
Mat wandte den Kopf und blickte zum Türdurchgang. Er konnte sehen, was Thom gehört hatte. Die Aelfinn schlichen durch den Korridor, schlangenhaft und tödlich. Sie lächelten, und vorn in diesem Lächeln schimmerten reißzahnähnliche Eckzähne. Wären diese Reißzähne nicht gewesen, hätten sie Menschen sein können. Und natürlich diese Augen. Diese unnatürlichen geschlitzten Augen. Sie bewegten sich anmutig. Schrecklich, begierig.
»Nein«, flüsterte Mat. »Es muss einen Weg geben.« Denk nach. Mat, du Narr. Es muss einen Ausweg geben. Wie bist du das letzte Mal entkommen? Das hatte Noal gefragt.
Mit verzweifeltem Ausdruck hakte Thom die Laute vom Rücken. Er fing an zu spielen. Mat kannte die Melodie. »Süßes Geflüster von Morgen.« Eine traurige Weise, die man für die gefallenen Toten spielte. Sie war wunderschön.
Erstaunlicherweise schien die Musik die Aelfinn zu beruhigen. Sie wurden langsamer, und die an der Spitze wiegten sich im Takt der Melodie. Sie wussten Bescheid. Thom spielte für sein eigenes Begräbnis.
»Ich weiß nicht, wie ich das letzte Mal hier herausgekommen bin«, flüsterte Mat. »Ich war bewusstlos. Als ich erwachte, hing ich dort. Rand schnitt mich ab.«
Er tastete nach seiner Narbe. Die Antworten der Aelfinn halfen nicht weiter. Er wusste über die Tochter der Neun Monde Bescheid, er wusste, was es mit der Hälfte des Lichts der Welt auf sich hatte. Er wusste über Rhuidean Bescheid. Alles ergab einen Sinn. Keine Lücken. Keine Fragen.
Außer…
Was gaben dir die Eelfinn?
»Wenn es nach mir ginge«, flüsterte Mat und starrte die näher kommenden Aelfinn an, »würden diese Löcher gefüllt.«
Die Aelfinn glitten heran. Sie trugen dieses gelbe Tuch, das ihre Körper einhüllte. Thoms Musik hallte durch die Korridore. Die Kreaturen kamen mit gleichmäßigen, langsamen Schritten näher. Sie wussten, dass sie ihre Beute in die Ecke getrieben hatten.
Die beiden vordersten Aelfinn trugen Schwerter aus funkelnder Bronze, von denen es rot heruntertropfte. Armer Noal.
Thom fing an zu singen. »Oh, wie lange waren doch die Tage des Menschen. Als wir wandelten durch ein zerstörtes Land.«
Mat hörte zu, und Erinnerungen stiegen in ihm auf. Thoms Stimme trug ihn zu längst vergangenen Tagen. Tagen in seiner eigenen Erinnerung, Tagen in den Erinnerungen anderer. Tage, an denen er gestorben war, Tage, an denen er gelebt hatte, Tage, an denen er gekämpft und gesiegt hatte.
»Ich will, dass diese Lücken gefüllt werden …«, flüsterte er zu sich selbst. »Das hatte ich gesagt. Die Eelfinn taten es und gaben mir Erinnerungen, die nicht mir gehörten.«
Moiraine hatte wieder die Augen geschlossen, aber sie lächelte, als sie Thoms Spiel lauschte. Mat hatte gedacht, er würde für die Aelfinn spielen, aber jetzt fragte er sich, ob er nicht doch für Moiraine spielte. Ein letztes wehmütiges Lied für eine gescheiterte Rettungsmission.
»Er segelte so weit, wie ein Mann steuern konnte«, sang Thom mit sonorer, wunderschöner Stimme.» Und er wünschte sich nie, seine Furcht zu verlieren.«
»Ich will, dass diese Lücken gefüllt werden«, wiederholte Mat, »also gaben sie mir Erinnerungen. Das war ihre erste Gabe.«
»Denn eines Menschen Furcht ist niemals enthüllt. Sie verschafft ihm Sicherheit und gibt ihm Mut!«
»Ich bat um etwas anderes, ohne es zu wissen«, fuhr Mat fort. »Ich sagte, ich will von den Aes Sedai und der Macht befreit sein. Dafür gaben sie mir das Medaillon. Ein weiteres Geschenk.«
»Lasst euch von der Furcht nicht von euren Bemühungen abhalten, denn diese Furcht beweist, dass ihr lebt!«
»Und … und ich bat sie um noch etwas. Ich sagte, ich will von ihnen weg und zurück nach Rhuidean. Die Eelfinn gaben mir alles. Die Erinnerungen, um die Lücken zu füllen. Das Medaillon, damit mich die Macht nicht berühren kann …«
Und was noch? Sie hatten ihn nach Rhuidean zurückgeschickt, um dort zu hängen. Aber das Hängen war ein Preis gewesen, keine Antwort auf seine Forderungen.
»Ich gehe diese zerstörte Straße«, sang Thom, und seine Stimme wurde lauter, »und ich trage eine schwere Last!«