Grenzenlos, sandte Perrin die Botschaft. Springer sagte mir, dass ich dich brauche. Der Wolf verschwand.
Perrin zuckte zusammen, dann sprang er an die Stelle, wo sich der Wolf aufgehalten hatte – eine Felsklippe mehrere Meilen von der Straße entfernt. Er fing den Hauch des Ziels des Wolfs auf und begab sich dorthin. Ein offenes Feld mit angrenzender Scheune, die verfallen aussah.
Grenzenlos? Der Wolf hockte in der Nähe in einem Gebüsch.
Nein. Nein. Grenzenlos übermittelte Furcht und Gefahr. Was habe ich getan?
Der Wolf schoss so schnell davon, dass er nur als Schemen zu sehen war. Perrin knurrte, ließ sich auf alle viere herunter und verwandelte sich in einen Wolf. Junger Bulle nahm die Verfolgung auf, und der Wind brauste in seinen Ohren. Er zwang ihn, sich vor ihm zu teilen, und wurde so noch schneller.
Grenzenlos versuchte zu verschwinden, aber Junger Bulle folgte ihm und erschien mitten auf dem Ozean. Er landete auf den Wellen, aber das Wasser unter seinen Pfoten war fest, und er hetzte Grenzenlos hinterher, ohne ins Stolpern zu kommen.
Grenzenlos’ Botschaften waren ein Gemisch aufzuckender Bilder. Wälder. Städte. Felder. Ein Bild von Perrin, der vor einem Käfig stand und auf ihn herabschaute.
Perrin erstarrte und wurde wieder zum Menschen. Er blieb auf den schäumenden Wellen stehen und stieg langsam in die Luft. Was? Die Botschaft hatte einen jüngeren Perrin gezeigt. Und Moiraine war bei ihm gewesen. Wie konnte Grenzenlos denn nur …
Und plötzlich erkannte Perrin die Wahrheit. Grenzenlos war im Wolfstraum stets in Ghealdan zu finden.
Noam, rief er dem fernen Wolf hinterher.
Da kam ein überraschtes Zusammenzucken, dann verschwand das Bewusstsein. Perrin versetzte sich zu dem Ort, an dem Grenzenlos gewesen war, und dort roch er ein kleines Dorf. Eine Scheune. Einen Käfig.
Perrin erschien dort. Grenzenlos lag zwischen zwei Häusern und schaute zu Perrin hoch. Er unterschied sich nicht von anderen Wölfen, obwohl Perrin nun die Wahrheit zu kennen glaubte. Das war kein Wolf. Er war ein Mann.
»Grenzenlos«, sagte Perrin und ließ sich auf ein Knie herab, um dem Wolf in die Augen zu sehen. »Noam. Erinnerst du dich an mich?«
Natürlich. Du bist Junger Bulle.
»Ich meine, erinnerst du dich an davor, als wir uns in der wachen Welt begegneten? Du hast mir ein Bild davon geschickt. «
Noam öffnete die Schnauze, und ein Knochen erschien zwischen seinen Kiefern. Ein großer Oberschenkelknochen, an dem noch ein paar Fleischfetzen hafteten. Er blieb liegen und kaute darauf herum. Du bist junger Bulle, sagte er stur.
»Erinnerst du dich an den Käfig, Noam?«, fragte Perrin leise und übermittelte das Bild. Das Bild eines Mannes, dessen dreckige Lumpen zur Hälfte zerrissen waren, den seine Familie in einen Holzkäfig gesperrt hatte.
Noam erstarrte, und seine Gestalt flackerte kurz und wurde zu einem Mann. Die Wolfsgestalt kehrte sofort zurück, und er knurrte. Ein leises, gefährliches Knurren.
»Ich habe die schlimmen Zeiten nicht erwähnt, um dich wütend zu machen, Noam«, sagte Perrin. »Ich … nun, ich bin wie du.«
Ich bin ein Wolf.
»Ja«, sagte Perrin. »Aber nicht immer.« Immer.
»Nein«, sagte Perrin fest. »Einst warst du wie ich. Es abzustreiten ändert nichts daran.«
Hier tut es das schon, Junger Bulle. Hier schon.
Das stimmte allerdings. Warum beharrte er so auf dieser Sache? Aber Springer hatte ihn hergeschickt. Warum sollte Grenzenlos die Antwort haben? Ihn zu sehen und seine Identität zu kennen brachte sämtliche von Perrins Ängsten zurück. Er war endlich mit sich im Reinen, aber hier war ein Mann, der sich völlig im Wolf verloren hatte.
Davor hatte er entsetzliche Angst gehabt. Das hatte den Keil zwischen ihn und die anderen Wölfe getrieben. Und da er das jetzt überwunden hatte, warum sollte Springer ihn herschicken? Grenzenlos roch seine Verwirrung. Der Knochen verschwand, und Grenzenlos legte den Kopf auf die Pfoten und schaute zu ihm hoch.
Noam, der praktisch den Verstand verloren hatte, hatte nur den einen Gedanken gehabt, sich zu befreien und zu töten. Er war eine Gefahr für jeden in seiner Umgebung gewesen. Davon war nichts mehr zu erkennen. Grenzenlos schien seinen Frieden gefunden zu haben. Als sie Noam befreit hatten, hatte Perrin die Sorge gehabt, der Mann würde bald sterben, aber es schien ihm gut zu gehen. Zumindest lebte er – auch wenn man der Gestalt des Mannes im Wolfstraum unmöglich ablesen konnte, wie es um seine Gesundheit stand.
Trotzdem war Grenzenlos’ Verstand jetzt viel gesünder. Perrin runzelte die Stirn. Moiraine hatte behauptet, dass im Verstand dieser Kreatur nichts mehr von dem Menschen Noam übrig sei.
»Grenzenlos«, sagte er. »Was denkst du über die Welt der Menschen?«
Sofort traf ihn eine schnelle Bilderfolge. Schmerzen. Trauer. Verwelkende Ernten. Schmerzen. Ein großer, stämmiger Mann, der betrunken eine hübsche Frau schlug. Schmerzen. Ein Feuer. Furcht, Trauer. Schmerzen.
Perrin taumelte zurück. Grenzenlos schickte weiter die Bilder. Eines nach dem anderen. Ein Grab. Daneben ein kleineres Grab, wie für ein Kind. Das Feuer wurde größer. Ein zornentbrannter Mann – Noams Bruder; Perrin erkannte ihn, obwohl der Mann zum damaligen Zeitpunkt nicht gefährlich erschienen war.
Es war eine Flut, eine überwältigende Flut. Perrin stieß ein Heulen aus. Ein Klagelied für das Leben, das Noam geführt hatte, ein Trauergesang voller Qual und Schmerz. Kein Wunder, dass dieser Mann das Leben eines Wolfs vorzog.
Die Bilder hörten auf, und Grenzenlos wandte den Kopf ab. Perrin schnappte unwillkürlich nach Luft.
Ein Geschenk, sagte Grenzenlos.
»Beim Licht«, flüsterte Perrin. »Das war eine Entscheidung, nicht wahr? Du hast den Wolf absichtlich gewählt.« Grenzenlos schloss die Augen.
»Ich hatte immer befürchtet, dass er mich überwältigt, wenn ich nicht vorsichtig bin.« Der Wolf ist Frieden.
»Ja«, sagte Perrin und legte dem Wolf die Hand auf den Kopf. »Ich verstehe.«
Das war für Grenzenlos das Gleichgewicht. Ein ganz anderes Gleichgewicht als bei Elyas. Und auch anders als das, das er gefunden hatte. Er verstand. Es bedeutete nicht, dass die Art und Weise, auf die er die Kontrolle verlor, keine Gefahr darstellte. Aber es war das letzte Puzzleteil, das er benötigte, um es zu verstehen. Das letzte Teil von ihm selbst.
Danke, übermittelte Perrin die Botschaft. Das Bild von Junger Bulle dem Wolf und Perrin dem Mann, die Seite an Seite auf einem Hügel standen und beide denselben Geruch hatten. Er schickte das Bild hinaus in den Traum, mit so viel Kraft, wie er konnte. Zu Grenzenlos, zu den Wölfen in der Nähe. Zu jedem, der zuhören wollte.
Danke.
»Dovie’andi se tovya sagain«, sagte Olver und warf die Würfel. Sie rollten über den Tuchboden des Zelts. Olver lächelte, als sie ruhten. Nur schwarze Augen, keine Wellenlinien oder Dreiecke. In der Tat ein glücklicher Wurf.
Olver bewegte seinen Spielstein auf dem Spielbrett von Schlangen und Füchse, das sein Vater für ihn auf einem Tuch angefertigt hatte. Es schmerzte ihn jedes Mal, dieses Spielbrett zu sehen. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Krieger weinten nicht. Davon abgesehen würde er eines Tages den Shaido finden, der seinen Vater getötet hatte. Dann würde er seine Rache bekommen.
So etwas tat ein Mann eben, wenn er ein Krieger war. Sicherlich würde Mat ihm helfen, sobald er die Sache mit der Letzten Schlacht erledigt hatte. Dann würde er ihm nämlich etwas schulden, und zwar nicht nur für die vielen Male, die er Mats Botenjunge gewesen war. Sondern für die Informationen, die er ihm über die Schlangen und Füchse gegeben hatte.