Zweifellos sah es wie das Werk der Schwarzen Ajah aus. Sie suchten nicht nach bestimmten Zielen, sondern nach welchen, die sich anboten. Aber etwas daran war falsch, das sagte ihm sein Gefühl. Warum nicht in der Nacht in die Quartiere der Schwestern Reisen und sie im Schlaf umbringen? Warum hatte niemand Machtlenken von den Orten gespürt, an denen die Schwestern getötet worden waren?
Sleete inspizierte sorgfältig Tür und Schloss. Als Egwene Gawyn die Erlaubnis gegeben hatte, die Orte der Verbrechen zu besuchen, hatte er sie gefragt, ob er Sleete mitnehmen dürfe. Bei ihren früheren Begegnungen hatte sich der Behüter nicht nur als sorgfältig erwiesen, sondern auch diskret.
Gawyn suchte weiter. Etwas machte Egwene nervös, davon war er überzeugt. Sie war nicht völlig ehrlich, was diese Morde anging. Er fand keine Furchen im Teppich oder den Bodenfliesen, keine Schnitte in den Möbeln des kleinen Zimmers.
Egwene hatte behauptet, die Mörder kämen durch Wegetore, aber dafür hatte er keinen Beweis gefunden. Sicher, er wusste noch nicht viel über diese Wegetore, und Berichten zufolge konnte man sie über dem Boden erzeugen, damit sie nichts zerschnitten. Aber warum sollten sich die Schwarzen Ajah diese Mühe machen? Davon abgesehen war dieser Raum so klein, dass es seiner Meinung nach sehr schwer gewesen wäre, ohne eine Spur zu hinterlassen in ihn hineinzukommen.
»Gawyn, kommt her«, sagte Sleete. Der Behüter kniete noch immer neben dem Eingang.
Gawyn gesellte sich zu ihm. Sleete schob mehrmals den Riegel des Schlosses hin und her. »Diese Tür könnte aufgebrochen worden sein«, sagte er leise. »Seht Ihr diesen Kratzer auf dem Riegel? Man kann diese Art Schloss öffnen, indem man einen schmalen Haken einführt und gegen den Riegel stemmt, um dann Druck auf die Klinke auszuüben. Das kann man so gut wie lautlos machen.«
»Warum sollten Schwarze Ajah eine Tür aufbrechen müssen?«, fragte Gawyn.
»Vielleicht sind sie in den Korridor Gereist und dann herumgegangen, bis sie unter einer Tür Licht durchscheinen sahen«, meinte Sleete.
»Und warum das Tor dann nicht auf der anderen Seite öffnen?«
»Machtlenken hätte die Frau darin alarmiert«, sagte Sleete.
»Das stimmt.« Gawyn sah zu dem blutigen Flecken. Der Schreibtisch stand so, dass sein Benutzer der Tür den Rücken zukehrte. Dieses Arrangement gab Gawyn einen Juckreiz zwischen den Schultern. Wer stellte denn einen Schreibtisch so auf? Eine Aes Sedai, die sich in völliger Sicherheit wähnte und von möglichen Störungen auf dem Korridor abgewandt sitzen wollte. Trotz ihrer ganzen Durchtriebenheit schienen Aes Sedai manchmal ein erstaunlich unterentwickeltes Gefühl für Selbsterhaltung zu haben.
Aber vielleicht dachten sie auch einfach nicht wie Soldaten. Um diese Dinge kümmerten sich ihre Behüter. »Hatte sie einen Behüter?«
»Nein«, sagte Sleete. »Ich habe sie kennengelernt. Sie hatte keinen.« Er zögerte. »Keine der Ermordeten hatte einen Behüter. «
Gawyn sah Sleete mit hochgezogener Braue an.
»Das macht Sinn«, sagte Sleete. »Wer auch immer sie umbringt, wollte keine Behüter alarmieren.«
»Aber warum mit dem Messer töten?«, sagte Gawyn. Alle vier waren auf diese Weise getötet worden. »Die Schwarzen Ajah müssen nicht den Drei Eiden gehorchen. Sie hätten mit der Einen Macht töten können. Viel direkter, viel einfacher.«
»Aber damit riskiert man, das Opfer oder all jene in der Nähe zu alarmieren«, bemerkte Sleete.
Ein weiterer guter Einwand. Trotzdem, irgendetwas an diesen Morden ergab keinen Sinn.
Aber vielleicht griff er ja auch daneben, bemühte sich, etwas zu finden, mit dem er helfen konnte. Ein Teil von ihm glaubte, dass, wenn er Egwene bei diesem Problem helfen konnte, sie ihm zugeneigter sein würde. Ihm vielleicht vergeben würde, dass er sie während des Angriffs der Seanchaner aus der Burg gerettet hatte.
Einen Augenblick später trat Chubain ein. »Ich gehe davon aus, dass Eure Lordschaft ausreichend Zeit hatten«, sagte er steif. »Die Dienerschaft ist da, um sauber zu machen.«
Unerträglicher Kerl!, dachte Gawyn. Muss er mir gegenüber so abschätzig sein? Ich sollte …
Nein. Gawyn zwang sich, sein Temperament unter Kontrolle zu behalten. Früher war ihm das nicht so schwergefallen.
Warum war Chubain so feindselig? Gawyn ertappte sich bei dem Gedanken, wie wohl seine Mutter mit so einem Mann umgegangen wäre. Er dachte nicht oft an sie, denn das erinnerte ihn an al’Thor. Diesem Mörder hatte man sogar erlaubt, die Weiße Burg ungehindert zu verlassen! Egwene hatte ihn in der Hand gehabt und ihn gehen lassen.
Sicher, al’Thor war der Wiedergeborene Drache. Aber in seinem Herzen wollte Gawyn al’Thor mit dem Schwert in der Hand begegnen und ihn mit Stahl durchbohren. Wiedergeborener Drache oder nicht.
Al’Thor würde dich mit der Einen Macht in Stücke reißen, sagte er sich. Du bist ein Narr, Gawyn Trakand. Sein Hass auf al’Thor brodelte trotzdem weiter.
Einer von Chubains Wächtern trat vor, sagte etwas und zeigte auf die Tür. Chubain sah verärgert aus, dass ihnen das aufgebrochene Schloss nicht aufgefallen war. Die Burgwache diente nicht als Ordnungshüter – die Schwestern brauchten so etwas nicht und waren bei dieser Art Untersuchung sowieso viel effektiver. Aber Gawyn konnte sehen, dass sich Chubain wünschte, er könnte den Anschlägen ein Ende bereiten. Die Burg und ihre Bewohner zu beschützen war seine Pflicht.
Also arbeiteten er und Gawyn für dasselbe Ziel. Aber Chubain benahm sich, als wäre das ein persönlicher Wettstreit zwischen ihnen. Obwohl seine Seite während der Spaltung der Burg fraglos von Brynes Seite besiegt wurde, dachte Gawyn. Und soweit er weiß, gehöre ich zu Brynes Lieblingen.
Gawyn war kein Behüter, aber er war ein Freund der Amyrlin. Er aß zusammen mit Bryne. Wie sah das wohl für Chubain aus, vor allem jetzt, da er die Erlaubnis erhalten hatte, die Morde zu untersuchen?
Beim Licht!, dachte Gawyn, als ihm Chubain einen finsteren Blick zuwarf. Er glaubt, ich will ihm seine Stellung streitig machen. Er glaubt, ich will Oberhauptmann der Burgwache werden!
Die Vorstellung war einfach lächerlich. Gawyn hätte der Erste Prinz der Schwerter sein können, nein müssen, der Anführer der Heere Andors und der Beschützer der Königin. Er war der Sohn von Morgase Trakand, eine der einflussreichsten und mächtigsten Herrscherinnen, die Andor je gehabt hatte. Er verspürte nicht das geringste Verlangen für die Position dieses Mannes.
Allerdings sah das Chubain sicher anders. Entehrt durch den zerstörerischen seanchanischen Angriff, musste er das Gefühl haben, seine Stellung sei in Gefahr.
» Hauptmann «, sagte Gawyn, » ein Wort unter vier Augen?«
Chubain sah Gawyn misstrauisch an, aber dann deutete er mit dem Kopf in Richtung Korridor. Die beiden Männer zogen sich zurück. Draußen warteten schon nervöse Burgdiener, die alles vom Blut säubern wollten.
Chubain verschränkte die Arme und musterte Gawyn. » Was wollt Ihr von mir, mein Lord?«
Er betonte oft den Rang. Ganz ruhig, dachte Gawyn. Er verspürte noch immer Scham über die Art und Weise, wie er sich den Weg in Brynes Lager erzwungen hatte. Er war besser als das. Die Zeit bei den Jünglingen und das hautnahe Erleben der Spaltung der Burg, die Verwirrung und Schande, die dieses Ereignis mit sich gebracht hatte, hatten ihn verändert. Diesem Pfad konnte er nicht länger folgen.
»Hauptmann«, sagte er, »ich weiß es zu schätzen, dass Ihr mich dieses Zimmer untersuchen ließet.«
»Ich hatte keine große Wahl.«
»Das weiß ich. Trotzdem danke ich Euch. Es ist mir wichtig, dass die Amyrlin sieht, dass ich helfe. Falls ich etwas finde, das die Schwestern übersehen haben, könnte das sehr wichtig für mich sein.«