»Welches Ergebnis?«, knurrte Moridin. »Ihr habt Euch überrumpeln lassen und törichterweise das Leben eines der Auserwählten verloren! Wir hätten uns darauf verlassen sollen können, dass gerade Ihr von allen Leuten Euch nicht von al’Thor ein Bein stellen lasst.«
Er wusste nicht, dass sie Aran’gar gefesselt und zum Sterben zurückgelassen hatte, er hielt es für ein Missgeschick. Gut. »Mich überrumpeln lassen?«, sagte sie und klang entsetzt. »Ich habe mich nie … Moridin, wie könnt Ihr auch nur glauben, ich hätte mich zufällig von ihm finden lassen!«
»Ihr habt es absichtlich getan?«
»Natürlich«, antwortete Graendal. »Ich musste ihn beinahe an die Hand nehmen, um ihn zu Natrins Hügel zu führen. Lews Therin konnte doch nie die Tatsachen erkennen, die er vor der Nase hatte. Moridin, versteht Ihr denn nicht? Wie wird Lews Therin auf das reagieren, was er getan hat? Eine ganze Festung, eine Miniaturstadt mit Hunderten von Bewohnern zu vernichten? Unschuldige zu töten, um sein Ziel zu erreichen? Wird ihm das gleichgültig sein?«
Moridin zögerte. Nein, darüber hatte er nicht nachgedacht. Insgeheim lächelte sie. Für ihn würden al’Thors Handlungen völlig normal gewesen sein. Es war der logischste und damit der vernünftigste Weg gewesen, das Ziel zu erreichen.
Aber al’Thor selbst… er steckte voller Tagträume über Ehre und Tugenden. Dieser Vorfall würde ihm garantiert zu schaffen machen, und ihn Moridin gegenüber als Lews Therin zu bezeichnen wurde das noch unterstreichen. Diese Taten würden an al’Thor nagen, an seiner Seele reißen, sein Herz wund und blutig peitschen. Er würde Albträume haben, würde die Schuld auf seinen Schultern tragen wie das Joch eines schwerbeladenen Karrens.
Sie konnte sich nur undeutlich daran erinnern, wie es gewesen war, diese ersten paar Schritte auf den Schatten zuzumachen. Hatte sie jemals diesen albernen Schmerz verspürt? Ja, leider. Das galt nicht für alle Auserwählten. Semirhage war von Anfang an korrupt bis auf die Knochen gewesen. Aber andere von ihnen hatten verschiedene Wege zum Schatten genommen, Ishamael eingeschlossen.
In Moridins Augen konnte sie die Erinnerungen sehen, so fern sie waren. Einst war sie sich nicht sicher gewesen, wer dieser Mann war, aber jetzt war sie es. Das Gesicht war anders, aber es war dieselbe Seele. Ja, er wusste genau, was al’Thor fühlte.
»Ihr habt mir befohlen, ihm Leid zuzufügen«, sagte sie. »Ihr habt mir befohlen, ihm Qualen zu bringen. Das war die beste Möglichkeit. Aran’gar half mir, aber sie floh nicht, als ich es vorschlug. Sie wollte immer mit dem Kopf durch die Wand. Aber ich bin sicher, der Große Herr findet andere Werkzeuge. Wir gingen ein Risiko ein, und es forderte einen Preis. Aber das Ergebnis … Davon abgesehen hält mich Lews Therin nun für tot. Das ist ein großer Vorteil.«
Sie lächelte. Nicht zu viel Vergnügen. Nur etwas Zufriedenheit. Moridin runzelte die Stirn, dann zögerte er und blickte zur Seite. Ins Nichts. »Ich werde Euch nicht bestrafen, jedenfalls jetzt nicht«, sagte er schließlich, obwohl er nicht erfreut darüber klang.
War das ein Austausch direkt mit dem Großen Herrn gewesen? Soweit sie wusste, mussten in diesem Zeitalter alle Auserwählten ihn im Shayol Ghul besuchen, um ihre Befehle zu erhalten. Oder einen Besuch von dieser schrecklichen Kreatur Schaidar Haran über sich ergehen lassen. Jetzt schien der Große Herr direkt mit dem Nae’blis zu sprechen. Interessant. Und beunruhigend.
Es bedeutete, dass das Ende nah war. Es würde nicht mehr viel Zeit für Täuschungsmanöver übrig sein. Sie würde sich zur Nae’blis machen und diese Welt beherrschen, sobald die Letzte Schlacht geschlagen war.
»Ich glaube, ich sollte …«
»Ihr sollt Euch von al’Thor fernhalten«, befahl Moridin. »Ihr werdet nicht bestraft, aber ich sehe auch keinen Grund, Euch zu loben. Ja, möglicherweise ist al’Thor angeschlagen, aber Ihr habt mit Eurem Plan trotzdem versagt und uns ein nützliches Werkzeug gekostet.«
»Natürlich«, sagte Graendal glatt. »Ich diene, wie es dem Großen Herrn gefällt. Ich wollte sowieso nicht vorschlagen, auf direktem Weg gegen al’Thor vorzugehen. Er hält mich für tot, soll er also erst einmal in seiner Unwissenheit verharren, während ich anderswo arbeite.«
»Anderswo?«
Graendal brauchte einen Sieg, einen entscheidenden. Sie ging die verschiedenen Pläne durch, die sie geschmiedet hatte, wählte den aus, der die größte Erfolgsaussicht hatte. Sie konnte nicht gegen al’Thor vorgehen? Also gut. Dann würde sie dem Großen Herrn etwas anderes bringen, das er sich schon lange wünschte.
»Perrin Aybara«, sagte sie. Ihr Vorhaben Moridin enthüllen zu müssen gab ihr ein Gefühl der Blöße. Sie zog es vor, ihre Pläne für sich zu behalten. Aber sie bezweifelte, dass sie diesem Treffen entkommen wäre, ohne es ihm zu sagen. »Ich bringe Euch seinen Kopf.«
Moridin wandte sich dem Feuer zu, verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er beobachtete die Flammen.
Entsetzt fühlte sie, wie ihr Schweiß die Stirn hinunterrann. Was? Sie konnte Hitze und Kälte meiden. Was stimmte nicht? Sie konzentrierte sich stärker … es wollte einfach nicht funktionieren. Nicht hier. Nicht in seiner Nähe.
Das bereitete ihr großes Unbehagen.
»Er ist wichtig«, sagte sie. »Die Prophezeiungen …«
»Ich kenne die Prophezeiungen«, meinte Moridin leise. Er drehte sich nicht um. »Wie wollt Ihr das anstellen?«
»Meine Spione haben sein Heer entdeckt«, sagte Graendal. »Ich habe bereits ein paar Vorkehrungen getroffen, für alle Fälle. Ich habe diese Gruppe Schattengezücht, die mir überlassen wurde, um Chaos zu stiften, und ich habe eine Falle vorbereitet. Sollte al’Thor Aybara verlieren, wird ihn das vernichten.«
»Es wird mehr als das«, sagte Moridin leise. »Aber das schafft Ihr nie. Seine Männer verfügen über Wegetore. Er wird Euch entkommen.«
»Ich…«
»Er wird Euch entkommen«, sagte Moridin leise.
Der Schweiß perlte ihre Wange hinunter, dann weiter zum Kinn. Sie wischte ihn unauffällig ab, aber neue Tropfen traten auf ihre Stirn.
»Kommt«, sagte Moridin und ging auf den Korridor außerhalb des Raumes zu.
Graendal folgte ihm neugierig, aber voller Furcht. Er führte sie zu einer Tür in der Nähe, die in die schwarze Steinwand eingelassen war. Er stieß sie auf.
Graendal folgte ihm hinein. Der schmale Raum war voller Regale. Sie enthielten Dutzende – vielleicht Hunderte – Gegenstände der Macht. Bei der Dunkelheit!, dachte sie. Wo hat er so viele davon her?
Moridin begab sich an das Ende des Raumes, wo er ein paar der Gegenstände näher betrachtete. »Ist das eine Schocklanze?«, fragte sie und zeigte auf ein langes dünnes Stück Metall. »Drei Bindestäbe? Ein Rema’kar? Diese Teile einer …«
» Das ist unwichtig «, sagte er und wählte einen Gegenstand.
»Wenn ich nur …«
»Ihr steht kurz davor, an Gunst zu verlieren, Graendal.« Er drehte sich um und hielt ein langes spitzes silbriges Metallstück, an dessen Spitze sich ein großer Metallkopf mit goldenen Intarsien befand. »Von denen hier habe ich nur zwei gefunden. Das andere wird für einen guten Zweck benutzt. Ihr dürft das hier haben.«
»Ein Traumnagel?« Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, einen davon zu besitzen! »Ihr fandet zwei davon?«
Er schnippte gegen den Kopf des Traumnagels, und er verschwand aus seiner Hand. »Ihr wisst, wo er zu finden ist?«
»Ja«, antwortete sie mit wachsendem Verlangen. Das war ein Objekt von großer Macht. Nützlich auf so viele Arten.
Moridin trat einen Schritt vor und fixierte sie mit seinem Blick. »Graendal«, sagte er leise, gefährlich. »Ich kenne den Schlüssel des Nagels. Er wird nicht gegen mich oder einen der Auserwählten eingesetzt. Der Große Herr wird wissen, wenn Ihr das tut. Ich wünsche nicht, dass Ihr Eurer offensichtlichen Angewohnheit weiter nachgeht, nicht bis Aybara tot ist.«